Liebe Tanja,
die Leute in diesem Buch fallen des Öfteren ins Wasser.
Ungefähr so falle ich jede Woche aus irgendeiner Geschichte in die Montessori-Dramagruppe. Immer zu spät und immer ohne Textheft. Du hast noch nie geschimpft, und deshalb ist dieses Buch Dir gewidmet: etwas Pazifiksonne zum Entspannen nach dem Probenstress. Keine Angst. Wir machen kein Stück daraus.
Dieses Buch spielt im Zweiten Weltkrieg, aber es ist kein Buch über den Zweiten Weltkrieg. Bücher über den Zweiten Weltkrieg gibt es viele.
Weil dies kein Buch über den Zweiten Weltkrieg ist, enthält es keine Erklärungen, warum es einen solchen Krieg gab und warum es ihn nie wieder geben darf. Solche Erklärungen gibt es viele.
Wenn Ihr etwas darüber wissen wollt, lest in den anderen Büchern nach. Im Internet. Fragt Eure Eltern. Oder Eure Lehrer. Lehrer gibt es viele …
Dieses Buch spielt im Zweiten Weltkrieg, aber es ist kein Buch über den Zweiten Weltkrieg.
Es ist ein Buch über zwei Menschen, die einen Weg finden, den sie nicht gesucht haben.
Ein Buch über den Tod und das Leben. Über Lüge und Wahrheit. Über Träume und Wirklichkeit. Über Verzweiflung und Hoffnung.
Über Feuernächte und blaue Schmetterlinge.
Und über den Flug des Albatros.
Primavera 1945
Frühjahr 1945
Er wusste genau, wie er das Schiff um die unsichtbaren Klippen herumsteuern musste, die vor der Insel lagen. Er wusste es besser, als die Piraten es gewusst hatten, Jahrhunderte zuvor. Er würde es nie vergessen.
Er wusste, wo er den Anker auswerfen musste und wo der Weg begann, der den Berg hinaufführte. Sein Vater sah zu, wie er die Spannung der Ankertrosse prüfte. In seinem Blick lag Stolz. »Dieses Schiff«, sagte er. »Es gehorcht dir wie ein Hund.«
»Nicht wie ein Hund«, sagte José. »Es hat seinen eigenen Willen. Wir verstehen uns.«
Sie wateten schweigend zum Ufer. Eine Gruppe von Seelöwen lag im warmen Sand und beobachtete die Neuankömmlinge aus trägen Sonnenaugen. Dann, ganz plötzlich, rollte eines der Tiere herum und robbte auf José zu.
»Chispa?«, fragte er verwundert. »Bist du das?«
Die Seelöwin rieb ihren Kopf an seinem Knie. Natürlich bin ich es, antwortete sie stumm.
José schloss für einen Moment die Augen und tausend Bilder schossen durch seinen Kopf. Bilder aus einer Geschichte, die drei Jahre zurücklag.
Er sah spritzende weiße Gischt und stiebende rote Funken. Die Muster der grünen Wasserschildkröten. Den Tanz der Delfine. Eine Tür, die unter der gleißenden Sonne auf dem Pazifik schwamm, mit zwei leblosen Gestalten darauf. Er spürte scharfe dünne Schnur, die seine Handgelenke fesselte. Er hörte das Heulen des Sturms in der Takelage, das Bersten von Holz. Er hörte Schüsse. Er hörte Worte . Wir trennen uns nicht für ewig. Und er hörte, wie jemand seinen Namen sagte. Er öffnete die Augen.
»José? Träumst du?«, fragte sein Vater.
José schüttelte den Kopf. »Nein. Ich erinnere mich.«
Er fuhr der Seelöwin noch einmal übers Fell, stand auf und hob die linke Hand vor die Augen, um den Weg hinaufzusehen, an dem die verblichenen Panzer der toten Schildkröten lagen. Er war Rechtshänder, aber er konnte den rechten Arm seit damals nicht so benutzen wie den linken. Die Schulter würde für immer steif bleiben. Es machte nichts. Er lebte.
»Geh langsam«, bat er seinen Vater. »Ich möchte vor dir da sein. Ein wenig nur.«
Señor Fernandez nickte. »Ich werde langsam gehen. Erzählst du es ihnen?«
»Ja. Es wird nicht einfach. Aber ich erzähle es ihnen.«
»Gut«, sagte Señor Fernandez. »Viel Glück.«
Lied der Fregattvögel
Seht nur! Seht nur! Wie schön wir sind!
Schön wie der Morgen, der bald beginnt,
stolzgeschwellt unsre roten Kehlen,
rot wie die Sonne, rot wie Juwelen.
Seht nur! Seht nur! Wie frei wir sind!
Frei wie die Luft, frei wie der Wind.
Wir steigen so hoch wie der Regenbogen
und stürzen pfeilgerade hinab in die Wogen.
Seht nur! Seht nur! Wie schnell wir sind!
Schneller, als ein Gedanke zerrinnt.
Rot-schwarze Blitze über dem Meer.
Seht nur! Seht nur! Seht her!
Ihr Menschen, die ihr so träge und schwer,
ihr sucht nach der Freiheit, ihr sucht nach dem Licht,
ihr denkt, eure Schiffe beherrschen das Meer.
Ihr glaubt euch so mächtig und seid es doch nicht.
Una noche en el mare pacifico
Eine Nacht auf dem Pazifik
Der Pazifik lag schwer und schwarz in der Nacht wie ein Stein. Ein dunkler Stein aus erkalteter Lava.
Es war kaum auszumachen, wo das Wasser endete und wo der Himmel begann. Alles, was es gab, war Schwärze. Sternenlose Schwärze. Und irgendwo in dieser Schwärze war ein Schiff unterwegs: die Isabelita. Sie hieß nach der Insel, von der sie jetzt kam, Isabela, der größten der Galapagosinseln.
Die Positionslichter des Schiffs waren das Einzige, was man in der Dunkelheit sah: ein schwaches grünes Leuchten rechts, an Steuerbord, ein rotes Glühen an Backbord, eine weiße Lampe am Bug. So glitt die Isabelita durch die Nacht, lautlos, unter Segel, denn Treibstoff gehörte zu den Dingen, die in der letzten Zeit gespart werden mussten. Die Nacht um das Schiff herum war eine Mainacht im Jahr 1942. Für die Galapagosinseln bedeutete dies das Ende der Regenzeit. Für die Weltgeschichte bedeutete es etwas anderes: Weit, weit fort, in Europa, tobte ein Krieg. Aber er dehnte und reckte sich schon, wuchs und gedieh und streckte seine Krallen bis in die pazifische Nacht.
Wäre jemand an Deck gewesen und hätte dieser Jemand eine Lampe gehabt, so hätte er gesehen, wie eine kleine Gestalt den Steuerbordaufgang hinaufkletterte. Im Licht der Lampe wäre ein Kopf mit struppigem, kurzem blondem Haar in der Luke aufgetaucht … zwei magere Hände, die sich am Geländer festklammerten … eine abgetragene Jacke und eine graue Hose … bloße Füße. Schließlich wäre das Licht an der Gestalt hinaufgewandert und hätte in ein blasses Gesicht geschienen: ein Gesicht mit einer Narbe an der Stirn. Ein Gesicht, das auf den ersten Blick wirkte, als besäße es weder Augenlider noch Brauen, so hellblond waren sie. Ein Gesicht mit fest geschlossenen Augen.
Die Gestalt, der das Gesicht gehörte, schlief. Sie war im Schlaf die steile Treppe hinaufgeklettert und nun ging sie im Schlaf über das taufeuchte Deck.
Oh, wäre jemand an Deck gewesen und hätte dieser Jemand eine Lampe gehabt, so hätte er sich sicherlich gewundert. Doch es war niemand da, und so sah niemand, wie die Gestalt das Vorderdeck überquerte – oder sollten wir sagen: der Junge? Nennen wir den Jungen Jonathan, denn Jonathan war der Name auf dem Pass in seiner Tasche. Jonathan Christopher Smith, geboren am 12.2.1929 in London.
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