Stets waren die Buchtitel in der Muttersprache des jeweiligen Autors geschrieben, so beispielsweise „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“. Ein paar Meter weiter stieß ich auf eine Leiter. Sie war hölzern und mit einer dicken Staubschicht überzogen. Dennoch wirkte sie stabil. Ich versuchte sie an eine andere Stelle zu rücken, scheiterte jedoch kläglich. Sie bewegte sich um keinen Zentimeter. Seufzend umklammerte ich eine Sprosse. Dann würde ich mich eben genau hier an den Aufstieg machen. Ich blickte nach oben. Der Drang hinaufzuklettern verstärkte sich. Zugleich aber gesellte sich eine gewisse Unsicherheit dazu: Was, wenn die Leiter umkippte? Sie stand fast senkrecht und aus irgendeinem Grund war ich fest davon überzeugt, dass sie nicht gesichert war und jederzeit fallen könnte. Was hatte es schon zu sagen, dass ich nicht fähig war sie zu verschieben? Nichts, oder? Bestimmt war das alles nur simple Physik. Und deshalb konnte es mich mal. Es gelang mir, die in meinem Kopf auftauchenden Bilder zahlreicher von Leitern stürzenden Menschen auszublenden, während ich mich Sprosse um Sprosse nach oben arbeitete. Je weiter ich mich vom Boden entfernte, desto besser wurde die Luft. Nun ja, möglicherweise bildete ich mir das auch nur ein, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich mich von Sekunde zu Sekunde wohler fühlte. Vollständig zufrieden war ich allerdings erst, als ich das oberste Regalbrett erreicht hatte. Hier schien sogar noch mehr Staub zu liegen, auch wenn das schwer vorstellbar war. Zwischen dem Deckbrett des Regals und der Höhlendecke lag ein Spielraum von vielleicht 35, maximal 40 Zentimetern. Dort hindurch konnte ich also zumindest auf den benachbarten Gang schauen. Von oben sah er ähnlich aus wie der, den ich gerade durchschritten hatte. Auf andere Regale hatte ich nur schlechte Sicht, was daran lag, dass die Höhe der Höhlendecke stark variierte, weswegen das Gestein die Holzbretter teilweise zu berühren schien. Trotzdem genoss ich es, auf dem Gipfel zu stehen.
Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wie ich auf eine derart absurde Idee gekommen war, doch auf einmal erschien es mir unglaublich verlockend, in das oberste Regalfach zu kriechen. Vor der Bücherreihe waren zwei Handbreit Platz, das sollte mir genügen. Mit den Händen umklammerte ich das Deckbrett des Regals, während ich vorsichtig meinen linken Fuß in das Regal setzte. Kaum dass er festen Stand hatte, zog ich den rechten nach.
Ein wohliges Gefühl der Aufregung legte sich über meinen Bauch, kein Adrenalinkick oder dergleichen. Nicht, dass ich es so geplant hätte, doch wo ich nun einmal im Regal angekommen war, wollte ich darin ein Stück weiterklettern. Wozu brauchte ich denn bitte eine Leiter? Blödsinn war das. Ich würde ganz einfach über die Regalbretter den Abstieg versuchen.
Was ich nicht bedacht hatte: Schon nach wenigen Schritten verebbte der Nervenkitzel. Ich fühlte mich sicher, sämtliche Spannung war verflogen. Aus diesem Grund zog ich mein kleines Abenteuer auch nicht unnötig in die Länge, sondern machte mich umgehend auf den Weg nach unten.
Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, stellte ich mit einem Blick an mir hinunter fest, dass ich über und über von Staub bedeckt war. Obwohl ich mich redlich bemühte, mich von diesem unangenehmen Ballast zu befreien, gelang es mir nur notdürftig. Achselzuckend beschloss ich, dass den Rest eben der Wind auf der Rückfahrt erledigen würde. Gewiss wäre er glücklich, mir diese kleine Gefälligkeit zu erweisen. Ohne mir darüber weiter den Kopf zu zerbrechen, machte ich mich auf die Suche nach einer meiner genialen Staubmarkierungen, denn mein Gefühl sagte mir, dass ich langsam aber sicher wieder aufbrechen sollte. Und das musste ich schon ohne die Hilfe des Windes schaffen. Ich lächelte still in mich hinein, während ich die erste Markierung entdeckte, der ich folgen konnte. Der Rückweg durch die Bücherregale dauerte nur unerheblich kürzer als der Hinweg, da ich wieder Titel um Titel aufsog. Eines jedenfalls konnte ich schon jetzt mit Gewissheit sagen: Diesen Ort besuchte ich nicht zum letzten Mal. Ich brannte darauf zu ergründen, was genau diese geheimnisvolle Höhle zu bedeuten hatte. Denn dass sie nicht nur zum Spaß existierte, dessen war ich mir sicher. Ein Gefühl von Leere stieg in mir empor, als ich den dunklen Gang, der mich zurück zum Strand führen sollte, betrat. Etwas in mir sträubte sich dagegen, diesen wundervollen Ort einfach zu verlassen. Doch was blieb mir anderes übrig? Ich unterdrückte den Impuls zu bleiben und tauchte wieder in die Dunkelheit.
Schon nach wenigen Schritten hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Allerdings besserte sich meine Laune stetig; das Erlebnis kam mir bereits so unwirklich vor, es taugte tatsächlich hervorragend für eine gute Story. Nun, hier ist sie, wobei ich zu diesem Zeitpunkt ja nicht ahnen konnte, dass der beste Teil erst noch bevorstand. Aus unerklärlichen Gründen tauchte plötzlich die Melodie eines Liedes aus meiner Kindheit in meinem Kopf auf. Ich versuchte, sie einzuordnen, bis mir endlich einfiel, dass sie von einer Petterson-und-Findus-CD stammte, die Janis einmal zum Geburtstag bekommen hatte. Mit einem Schlag erinnerte ich mich auch an den Anfang des Textes. Beschwingt begann ich – vermutlich ohne auch nur einen einzigen Ton richtig zu treffen, aber es hörte ja niemand zu – zu singen: „Man nehme Eier aus dem Stall, Mehl auf jeden Fall, Zucker, Milch und Salz und Butter ebenfalls und für die Füllung Sahneschnee … “ Weiter kam ich nicht. Verflucht, was folgte denn nur? Einige Sekunden lang war ich aufrichtig verärgert darüber, nicht mehr den gesamten Text im Kopf zu haben (die Melodie summte ich natürlich weiter), bevor mir bewusst wurde, wie albern das Ganze doch war. Ich lief allein durch einen mysteriösen dunklen Gang und sang von Kater Findus‘ Geburtstagstorte! Zwar schüttelte ich darüber den Kopf, verstummte jedoch nicht. Zu wohltuend war es, mit Hilfe dieser Ohrwurmmelodie die gute Laune zu nähren. Ohne es zu merken, fing ich an, im Takt auf und ab zu wippen, ja beinahe schon zu hüpfen. Dies fiel mir erst auf, als die Decke des Tunnels wieder tiefer wurde und ich gerade voller Elan im Aufschwung war. Meinen Fahrradhelm hatte ich leider beim Rad gelassen.
Das Rad!, schoss es mir durch den Kopf. Hatte ich es angeschlossen? Wahrscheinlich nicht. Oh je, hoffentlich war es noch da! Ich hatte wenig Lust, den Weg nach Hause zu Fuß zurückzulegen. Zudem war ich auch nicht sehr scharf darauf, Dad zu erklären, warum ich ein neues Fahrrad benötigte … genug der Schwarzmalerei! An dieser Biegung wurden üblicherweise keine Räder gestohlen … oder? Ich unterbrach diese Gedanken, sie führten ja doch zu nichts.
Als der Tunnel auf Kriechhöhe schrumpfte, sang ich glücklicherweise gerade nicht, sodass ich rechtzeitig auf die Knie ging. Der Rest des Weges erschien mir deutlich kürzer als beim ersten Mal, andererseits war ich nun auch weniger erwartungsvoll. Einmal abgesehen von der Sache mit dem Fahrrad. Vielleicht war ich deshalb so überrascht, als ich ins Freie und damit mitten hinein in die Dämmerung kroch. Erschrocken sah ich auf die Uhr. Tatsächlich, kurz vor halb zehn.
Kapitel 4
Mein erster Gedanke war: Was um alles in der Welt hat da drinnen derart viel Zeit gekostet? Dicht gefolgt von: Hoffentlich hat mich niemand vermisst! Nervös fummelte ich mein Handy aus der Tasche. Wie vermutet hatte ich in der Höhle kein Netz gehabt: ein verpasster Anruf von Jördis, drei von Janis. Ich spielte kurz mit dem Gedanken zurückzurufen, verwarf ihn jedoch recht schnell wieder. Ich würde ihnen das Ganze bald erklären, doch im Moment wollte ich meine Eindrücke noch allein genießen.
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