Gontard fiel auf, dass der Polizist immer dicker wurde – noch ein paar Pfund mehr, und er würde den Arm strecken müssen, um bis zum Gürtel zu gelangen. »Wie hat dieser Helm denn versucht, sich aus der Sache herauszuwinden?«, fragte Gontard. »Der Fall lag doch ziemlich klar.«
»Der Beschuldigte hat angegeben, vom Opfer und dem Zeugen angegriffen worden zu sein und in Notwehr gehandelt zu haben.« Werpel hob die Hand und fuchtelte mit dem Zeigefinger herum. »Doch von seiner Aussage kurz nach der Tat ist ein genaues Protokoll vorhanden. Im Verhör hatte Helm mir gegenüber zugegeben, dem Opfer zugerufen zu haben: ›Siehst du, Schweinehund, das geschieht dir recht!‹ In der Verhandlung hat er davon nichts mehr wissen wollen und sich als Unschuldslamm gegeben.«
Eine solche Wandlung kannte Gontard nur zu gut. In der Zelle hatten selbst die übelsten Gesellen genug Zeit, nach einer Ausrede zu suchen.
»Der Richter hat sich von dem Burschen nicht blenden lassen. Fünf Jahre darf der Kerl hinter Gittern schmoren.« Werpels Brust schwoll vor Stolz. Das machte allem Anschein nach sogar Eindruck auf die Passanten. Sie strömten herbei und ließen dabei einen ehrfürchtigen Abstand zu Gontard und Werpel von bestimmt einer halben Elle.
Gontard fand das Gehabe des Commissarius übertrieben. Der hatte lediglich einen Hitzkopf seiner gerechten Strafe zugeführt. Gontard dachte an die Criminalfälle, die er selbst in den vergangenen Jahren gelöst hatte. Bei den Tätern hatte es sich um ganz andere Kaliber gehandelt, Verbrecher, die nicht einfach vor Zeugen zustachen und sich alsbald von herbeigerufenen Polizisten in die Vogtei abführen ließen. In diesen Fällen hatte der Commissarius selten eine so selbstgefällige Miene aufgesetzt wie jetzt. Werpel übte sich bei kniffligen Angelegenheiten eher in der Kunst des Im-Weg-Stehens.
»Und Sie, Herr Oberst-Lieutenant, ermitteln Sie derzeit in einem Criminalfall?«, fragte Werpel gut gelaunt.
»Ach, Herr Commissarius«, antwortete Gontard, »ich habe derzeit viel zu tun. Seit mein neuer Bursche krank daniederliegt, merke ich, dass mir der Strohkopf bei allem Ärger doch das Leben erleichtert hat. Selbst wenn ich über eine Leiche stolpern würde, bliebe mir keine Zeit für Ermittlungen. Vermutlich würde ich mich einfach an Sie wenden.«
Die Küchenmamsell wuchtete den Suppentopf auf den Tisch in der Essküche. Sie verteilte die Portionen: eine Kelle für Henriette von Gontard, eine halbe für Luise, die Tochter des Hauses, und drei für Gontard. Es roch nach Kartoffeln, und Gontard verspürte Hunger.
Die Mamsell verließ die Küche. Henriette faltete die Hände zum Gebet. Gontard tat es seiner Frau gleich und blickte zu Luise. Die war mit ihren siebzehn Jahren eine junge Frau geworden. Gontard staunte beinahe jeden Tag über seine herangewachsene Tochter. Er wunderte sich nicht nur über die rundlichen Formen seiner Kleinen, noch mehr verwirrten ihn die erwachsenen Gesichtszüge Luises. In ihrem Antlitz zeichnete sich durchaus Anmut ab, aber für Gontards Geschmack hätte seine Tochter öfter lächeln dürfen.
Nach einem kurzen Nicken von Henriette sprach Gontard das Tischgebet, dann aßen alle. Gontards Hunger schien eigentümlicherweise mit jedem Löffel größer zu werden. Er zwang sich, die Suppe nicht hinunterzuschlingen, und blickte zu seiner Frau.
Vielleicht deutete Henriette das als Aufforderung, etwas zu sagen. »Es sind milde Tage«, stellte sie fest.
Luise nickte so ernsthaft, als sei sie in einer Behörde für Wetterangelegenheiten beschäftigt.
Gontard löffelte die Suppe. Draußen auf der Straße lag kein Schnee, aber immer wenn er ins Haus kam, war er doch froh über die wohlige Wärme des Heimes. In der Küche reichte der Herd sogar, ihn ins Schwitzen zu bringen. Gontard öffnete einen Knopf seiner Uniformjacke. Die Blicke von Frau und Tochter ruhten auf ihm. Er hielt das Wetter nicht für ein passendes Gesprächsthema, insbesondere wenn es nur um den Austausch von Belanglosigkeiten ging. Mit Schweigen würde er jedoch allem Anschein nach nicht davonkommen. Also erwiderte er: »Wenn ich den Himmel anschaue und den Wind bedenke, steht wohl Kälte bevor.« Damit schien alles gesagt. Sie aßen schweigend weiter. Mit jeder Minute erschien Gontard die Stille drückender. Noch vor einer halben Stunde hatte ihm die Hektik Unter den Linden fast die Nerven geraubt, und nun ertrug er die Ruhe nicht.
Luise hatte ihre Mahlzeit bereits beendet und legte den Löffel zur Seite.
Gontard überlegte, ob das Mädchen genug aß, war aber dann sicher, dass Henriette sich um so etwas kümmerte.
»Hast du nach dem Mahl noch Zeit, das neue Klavierstück anzuhören, das deine Tochter gerade lernt?«, fragte Henriette und schob dabei ihren leeren Teller beiseite.
»Selbstverständlich. Was spielst du gerade, Luise?«
Die Tochter schluckte.
»Sie übt am ersten Satz der Schumann’schen Phantasie . Ich finde, sie macht das ganz bezaubernd.«
Gontard teilte Henriettes Enthusiasmus für Luises Klavierspiel nur selten. Eine Clara Schumann würde sie wohl nicht werden. Allerdings spielte sie gut genug, um später in der eigenen Familie zu feierlichen Anlässen ein Ständchen zu geben. Das war zu begrüßen, wie er fand, auch wenn die Kleine sich für seinen Geschmack mit der Familiengründung noch ein paar Jahre Zeit lassen konnte.
»Sie hat mich heute Morgen ganz vorzüglich mit ihrem Spiel unterhalten«, fuhr Henriette fort.
Luise hob den Kopf, als wolle sie etwas sagen, hielt die Worte aber zurück.
»Auch die schwierigen Phrasen in d-Moll klingen nun gut. Ich bin so stolz auf unsere kleine Pianistin.«
»Mutter, bitte!«, zischte Luise.
Henriette zuckte zusammen und schaute zu ihrer Tochter. Plötzlich sah sie müde aus und alt. Sie drehte den Kopf und blickte fragend zu Gontard. Sekunden verronnen. »Luise, kannst du mir bitte erklären, was das soll?«, fragte Henriette, ohne ihren Kopf zu wenden.
»Entschuldige bitte. Es ist doch nur …« Luise vollendete den Satz nicht.
»Ich weiß manchmal nicht, was mit ihr los ist«, sagte Henriette.
Vermutlich sollte Gontard als Familienvorstand jetzt eingreifen und ein Machtwort sprechen. Doch zum einen fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können, und zum anderen wusste er nicht einmal, an wen er seine Worte hätte richten sollen. Worum ging es hier überhaupt? Luise sprach schon seit Jahren nicht allzu viel mit ihm. Gontard fragte seine Tochter gelegentlich nach ihrem Befinden, und sie erklärte in hübscher Regelmäßigkeit, ihr gehe es ausgezeichnet. Henriette hatte bislang nicht von Sorgen berichtet, was ihre Tochter anging, deshalb beließ Gontard es beim Schweigen.
»Mutter, ich bitte noch einmal um Verzeihung, aber ich fühle mich noch nicht so weit, die Phantasie jemandem vorzuspielen.«
War er denn ein Fremder?, fragte sich Gontard.
Henriette sah ihn unentwegt an, als erwarte sie etwas von ihm. Auch Luises Blick wanderte von der Mutter zu ihm.
»Lass das Mädchen doch!«, sagte Gontard.
Das schien nicht der rechte Satz gewesen zu sein. Sowohl Henriette als auch Luise runzelten die Stirn. Dabei sahen sie einander so ähnlich, dass Gontard beinahe lachen musste.
Drei
13. Januar, ½ 3 Uhr nachmittags
Hier muss es doch irgendeinen Hinweis geben«, sagte Ferdinand von Gontard.
»Ick kann hier überhaupt nix erkennen.«
Der Leichnam lag nach einer halben Stunde Buddelei weitgehend frei. Doch noch immer ließen sich keine Details ausmachen. Freilich handelte es sich um eine ordentliche Sauerei. Die Maden hatten im vergangenen feuchten Herbst ganze Arbeit geleistet. Von dem Mann, der vor ihnen ruhte, konnten sie sich kaum ein Bild machen. Die Stofffetzen der Hose mochten von einer Uniform stammen, am Oberkörper hatte der Tote vielleicht ein grobes Hemd getragen. Zumindest eines stand fest: Wenn er einen Waffenrock sein Eigen genannt hatte, musste er diesen vor seinem Tod abgelegt haben. Von einer Pickelhaube gab es ebenfalls nach wie vor keine Spur.
Читать дальше