Ferdinand wehrte einen Angriff Quappes gerade so ab. Er durfte nicht träumen. Nach einem Ausfallschritt startete er eine Serie von Stößen. Quappe wich zurück. Lange würde Ferdinand diese Intensität im Kampf nicht durchhalten, aber der Knecht stand bereits beinahe mit dem Rücken zum Gestrüpp.
Quappe schien den Hieben kaum noch etwas entgegensetzen zu können. Wie schnell sich das Blatt doch drehte! »Junger Herr, haltet ein!«, quetschte Quappe heraus.
Ferdinand setzte zu dem Sprung an, den er unbedingt noch üben wollte. Doch zu spät, Quappe stolperte rücklings in die Sträucher. Als er zu Boden ging, jaulte der Knecht wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten hatte. Sein Gestrampel bot ein bizarres Bild. Plötzlich verstummte er und hielt in der Bewegung inne.
Schwungvoll stieß Ferdinand seinen Degen in den Schnee und eilte zu Quappe.
Der Knecht lag im Geäst und rührte sich nicht. Seine linke Hand umklammerte etwas. Es sah aus, als versuche Quappe, sich an einem Stück Erdreich festzukrallen. Nein, eher erinnerte die braune Masse in seiner Hand an ein Pfund Sülze. Oder an Grützwurst – mit einem Stück Knochen darin.
»Wat is denn det?«, schrie Quappe ein wenig angewidert. Er rollte zur Seite, von der Sauerei weg, und wischte beim Aufstehen mit der Hand einzelne Klumpen von seiner Uniform.
Ferdinand schaute in das Gestrüpp. Dort, wo Quappe durch seinen Fall den Schnee beiseitegedrückt hatte, war noch mehr von der brauen Masse zu sehen. Es musste sich um Kot von einem Pferd handeln. Doch welcher Gaul kackte Knochen? Ein solcher lag zweifelsohne inmitten des Haufens. Wie sollte ein Pferd außerdem so weit vom Weg abkommen und in diesem Gestrüpp landen?
»Ick will hier weg!«, jammerte Quappe.
Ferdinand schüttelte den Kopf, nahm seinen Degen und stocherte vorsichtig in dem Brei herum. Unter dem Schnee lag gefrorenes Herbstlaub. Es pappte so fest zusammen, dass Ferdinand fast den Eindruck hatte, eine Holzplatte wegschieben zu müssen. »Helfen Sie mir doch mal, Quappe!«
»Machen Se det nich, junger Herr!«
»Haben Sie sich nicht so mädchenhaft, Quappe!«
Der Bursche brabbelte etwas Unverständliches, nahm aber seine Waffe und half, das Laub beiseitezuschieben. Darunter kamen noch mehr Brei, Knochen und Klumpen zum Vorschein.
»Weiter! Aber vorsichtig!«, befahl Ferdinand.
Quappe stöhnte. Stück für Stück entfernten sie Schnee, Eis und Laub. Zeichneten sich dort Fetzen von Kleidungsstücken an einem verwesten Leib ab?
»Reicht det nich?«
»Da oben muss der Kopf sein. Ich glaube, in dem Gebüsch liegt ein toter Mensch.« Ferdinand stocherte an einem kleinen Erdhügel herum. Das Gemisch aus Schnee, Eis und Laub war an dieser Stelle besonders hartnäckig und zu ungünstig der Winkel, aus dem Ferdinand es zu entfernen versuchte.
Ferdinand stapfte um die Sträucher herum, bis er eine Lücke im Geäst fand. Dann trat er eine Schneise ins Gesträuch. Die Äste splitterten zur Seite. Dennoch kam er dem Ziel nur langsam näher. Zudem ließ er Vorsicht walten. Wenn hier tatsächlich eine Leiche lag, wollte er keine Spuren verwischen. Also kämpfte er sich mit Geduld vorwärts. Die restlichen Teile des Gehölzes entfernte er mit der Klinge. Er beugte sich nach vorn, und es gelang ihm, die Schneedecke von hier aus mit dem Degen zu entfernen.
Unter dem Weiß bot sich ihm ein grauenhafter Anblick. Da lag ein Schädel. Die Augenhöhlen waren leer, und doch schienen die schwarzen Löcher zum Himmel zu starren. An den Seiten des Kopfes erinnerten die Haarsträhnen an modriges Stroh. Die Wangen waren eingefallen, der Mund war fratzenhaft verzerrt und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er grinsen oder die Zähne fletschen wollte. Ferdinand schluckte und sagte: »Kommen Sie, Quappe. Das müssen wir melden!«
Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard betrat den Hörsaal in der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule. Die dicken Wolken über Berlin verdunkelten den Raum und ließen die jungen Offiziere an den Studierbänken grau und damit um einiges älter erscheinen. Gontard wollte lieber nicht wissen, wie er selbst aussah. Der Winter raubte ihm die Lebensfreude, von Jahr zu Jahr mehr. Und bis zum Frühling blieben wenigstens noch zwei Monate.
Die Offiziere standen stramm. Gontard gab den Befehl zum Setzen, und die Männer fielen in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihnen herausgelassen. Einer in der letzten Reihe, ein dicklicher Kerl von altem Adel aus dem pommerschen Hause derer von Ahlewitz, gähnte sogleich. Das konnte ja eine heitere Vorlesung werden!
Gontard schlug sein Skript auf. In letzter Zeit hielt er sich bei den Vorlesungen immer mehr an seine Blätter, besonders an Tagen wie diesen. Er strich über das oberste Blatt und begann seinen Vortrag. »Wie Sie wissen, soll es heute um den Einsatz neuartiger Waffen in Sinope am Schwarzen Meer gehen. Mit den Bombenkanonen, die der französische General Paixhans konstruiert hat, haben die Russen im November des vergangenen Jahres die Seeschlacht gegen die Osmanen für sich entschieden.« Gontard referierte über die eingesetzten Geschosse, die ein Kaliber von knapp einer Elle aufwiesen. Ihre glattläufigen Rohre hatten sogar eine Länge von bis zu zehn Fuß. Ahlewitz gähnte erneut. »Können Sie die Verwendung der Waffen bei Sinope näher erläutern, Herr Lieutenant?«
Ahlewitz schreckte hoch, als habe ihn jemand in den Rücken gepikt. Das hätte Gontard dem vierschrötigen Kerl gar nicht zugetraut. Das Gestammel, das der junge Offizier von sich gab, stand allerdings in erheblichem Widerspruch zu seiner aufrechten Körperhaltung. »Kann jemand helfen?«, erlöste Gontard den armen Kerl.
Lieutenant Colder aus der ersten Reihe sprang auf und ergriff das Wort. Augenscheinlich hatte er nur darauf gewartet, sein Wissen zum Besten zu geben. »Die französischen Sprenggranaten der Russen haben die osmanischen Schiffe reihenweise in Brand gesetzt. Mehrere explodierten, andere wurden auf die Felsen getrieben.« Colders Worte klangen ihrerseits, als seien sie mit Kanonen abgeschossen. Die Rede hatte der junge Mann sicher auswendig gelernt. »Innerhalb von nur zwei Stunden waren sämtliche Schwadronen der Osmanen vernichtend geschlagen. Lediglich ein einziges Schiff konnte sich der Vernichtung entziehen und rettete sich gen Konstantinopel.«
»Sehr gut, Lieutenant Colder.« Gontard sprach betont langsam. Besonders Junkerssprösslingen von den großen Landgütern im Osten des Preußenreiches fiel es häufig schwer, allzu flotten Vorträgen zu folgen. Ahlewitz glotzte prompt wie ein Ochse.
»Das Gefecht bei Sinope war die erste Seeschlacht, bei der Sprenggranaten in so großem Umfang eingesetzt wurden«, fuhr Colder unbeirrt fort. »Durch den Erfolg der Russen lässt sich prognostizieren, dass künftige Kämpfe zur See regelmäßig mit diesen Waffen ausgefochten werden.«
Besser hätte Gontard es auch nicht sagen können. Colder schaute ihn an wie ein Rappe, der nach einem gelungenen Sprung auf ein Stück Zucker wartete. Gontard war lange genug sowohl Reiter als auch Lehrer, um zu wissen, dass eine kleine Gratifikation fällig war. So sagte er: »Ich danke Ihnen für Ihre vorzüglichen Ausführungen, Herr Lieutenant Colder. Daran können Ihre Kommilitonen sich ein Beispiel nehmen. Mit Ihrem Fleiß werden Sie es in der Armee Seiner Majestät weit bringen.« Das war eine Übertreibung an der Grenze zur Lüge, das wusste Gontard. Für eine große Karriere beim Militär fehlte Colder der Adelstitel. Der Junge müsste sich das »von« vor dem Nachnamen schon durch eine Heirat beschaffen. Aber selbst das würde nur helfen, wenn die Erwählte aus einer Familie mit besten Kontakten zum Militär stammte. Eher würde dieser träge Fettsack von Ahlewitz höhere Positionen einnehmen.
Gontard lobte den Fleiß bürgerlicher Studenten eigentlich nur, um Dummköpfe wie den hier in der letzten Reihe zu reizen. Tatsächlich schnappte Ahlewitz nach Luft wie ein Fisch. Gontard verkniff sich ein Grinsen. Er kehrte zum Thema seiner Vorlesung zurück und referierte über die Bedeutung der Telegraphie für den noch jungen Krimkrieg. Vor nicht einmal einem Vierteljahr hatten die Osmanen den Russen den Krieg erklärt, in Sinope war es zur besagten Seeschlacht gekommen. Derzeit zogen die Diplomaten der europäischen Mächte im Hintergrund ihre Fäden, dazu brauchte es vor allem genaue Informationen.
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