Im ersten Stock hingen die Porträts verdienter Offiziere der Garnison. Die Uniformen auf den Gemälden waren über und über mit Orden, Ehrenzeichen und Kordeln besetzt. Da erzählten die alten Offiziere immer etwas von Blut und Treue, und dann behängten sie sich mit opulentem Glitzerkram wie Weiber. Ferdinand dachte an seinen Vater, der sich über die hohen Offiziere und deren pompöse Abbildungen stets lustig machte. An dieser Galerie hätte er seine helle Freude gehabt. Ferdinand dagegen bekam bei jedem weiteren ernsten Gesichtsausdruck ein mulmigeres Gefühl.
Am Ende der Galerie bog der Gang zu Frohwitz’ Dienstzimmer ab. An der Ecke saß ein Corporal und gähnte.
»Ich möchte zu Herrn Generalmajor von Frohwitz, um eine Meldung zu machen«, sagte Ferdinand.
»Geht nicht«, nuschelte der Mann.
Ferdinand zögerte einen Augenblick. Vor ihm saß zwar lediglich ein Corporal, dem eine solch unhöfliche Rede einem Lieutenant gegenüber nicht zustand, aber immerhin handelte es sich um den Diensthabenden vor dem Zimmer des Bataillonskommandeurs. Zudem war der Kerl bestimmt zehn Jahre älter als Ferdinand. Wie würde sein Vater, der Oberst-Lieutenant von Gontard, sich in dieser Situation verhalten? Zumindest würde er sicher nicht vor einem Corporal kuschen.
»Ich habe etwas Wichtiges zu melden, Herr Corporal.« Ferdinands Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Und reden Sie gefälligst in vollständigen Sätzen mit mir!«
Der Corporal guckte wie ein Saufkumpan kurz vor einer Kneipenschlägerei. Wenigstens gähnte er nicht mehr, sondern sagte laut: »Ich habe meine Befehle, Herr Lieutenant. Der Generalmajor möchte nicht gestört werden.«
»Was ist denn das für ein Gebrüll?«, hallte es aus dem Gang.
Ferdinand erkannte die Stimme des Kommandeurs. Der Alte klang müde, so als habe er gerade ein Vormittagsschläfchen beendet. Frohwitz näherte sich mit gemessenen Schritten – oder schlurfte er?
Der Corporal sprang auf und zeigte auf Ferdinand. »Der junge Lieutenant missachtet Ihre Befehle, Herr Generalmajor!«
»Mit Verlaub, ich habe eine wichtige Meldung zu machen.« Ferdinand wandte sich direkt dem Alten zu. »Ich habe nur versucht, das dem Corporal zu vermitteln.«
»Hm.« Der Alte schaute Ferdinand eindringlich an. Da war er wieder, dieser forschende Blick. Nach einem Moment fuhr der Kommandeur fort: »Dann kommen Sie doch mit, Herr Lieutenant!« Frohwitz trottete gen Dienstzimmer, und Ferdinand folgte ihm.
Der Corporal hätte mit seinem Blick das Fegefeuer einfrieren können. Ferdinand genoss den Erfolg.
Im Dienstzimmer setzte sich der Kommandeur hinter einen barocken Secretär und sagte: »Sie müssen dem Corporal sein ungehobeltes Verhalten verzeihen. Wenn die Diensthabenden nicht so abweisend wären, fände ich nie Ruhe.«
Ferdinand merkte, wie seine Kinnlade herunterklappte. Grinste der Alte ihn an?
»Nun, mein junger Herr Lieutenant, ich habe gehört, Sie haben interessante Neuigkeiten.«
Wusste der Alte schon Bescheid? Und wenn ja, woher?
»Berichten Sie!«
»Ich habe an der Oderwiese eine Leiche entdeckt.«
»Das ist mir bekannt, Herr Lieutenant.«
Also tatsächlich … Ferdinand wusste nicht, was er dem Kommandeur noch berichten sollte. Er sagte: »Ich bin nicht sicher, ob ich die Zivilbehörden unterrichten soll. Ich habe meinen direkten Vorgesetzten bereits über den Fund informiert, aber keine klare Anweisung erhalten.«
Frohwitz hob einen Brieföffner vom Schreibtisch und richtete die Klinge auf Ferdinand. »Haben Sie bei der Leiche Hinweise auf eine Zugehörigkeit zur Armee Seiner Majestät gefunden?«
»Nein, Herr Generalmajor. Wobei die Kleidung kaum noch zu erkennen war. Einen Helm habe ich jedenfalls nicht entdeckt.«
Der Kommandeur tippte mit der Spitze des Brieföffners gegen den Zeigefinger seiner linken Hand. »Bei einem toten Zivilisten gäbe es keinen Zweifel, den würden wir den Zivilbehörden überlassen. Bei einem Armee-Angehörigen würden wir uns hingegen der Sache annehmen …«
»Ich kann Ihnen dahingehend leider keine zuverlässige Auskunft geben.«
Frohwitz legte den Brieföffner zurück auf die Tischplatte und schaute auf wie ein Großvater vom Märchenbuch. »Ihrem Vater eilt der Ruf voraus, solchen Fällen selbst auf den Grund zu gehen. Sie haben keine derartigen Ambitionen?«
»Sie meinen …«
»Ich würde sagen, Sie melden sich am Nachmittag wieder bei mir, Herr Lieutenant, und dann sehen wir, welche Informationen Sie zusammengetragen haben. Bis dahin behandeln wir die Sache vertraulich.«
Christian Philipp von Gontard lief die Linden entlang. Um genau zu sein, drängte er sich durch das Gewimmel – zwischen den Waschweibern mit ihren Körben hindurch, vorbei an Lumpensammlern, Bürgersleuten und Landeiern, die auf der Suche nach Halt in der großen Stadt waren. Alle paar Schritte bot ein Kolporteur brüllend seine Ware feil. Und das war nur das Fußvolk, das sich die Straße mit den Kutschen, Reitern und Pferdeomnibussen teilen musste. Gontard kam es so vor, als ob der Verkehr im Herzen der Residenzstadt immer dichter würde. Die Menschen schienen kaum zum Luftholen zu kommen vor lauter Eile. Wurde er einfach zu alt für diesen Trubel?
An der Friedrichstraße hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Ein fliegender Händler pries eine Zeitschrift an: Die Gartenlaube . Vor allem einfaches Volk umringte den Kolporteur und riss ihm die Blätter förmlich aus der Hand. Gontard kannte Die Gartenlaube von der Küchenmamsell. Die hatte das illustrierte Familienblatt im vergangenen Jahr erstmals mitgebracht und in jeder freien Minute darin geschmökert. Inzwischen kaufte sogar Gontards Frau Henriette gelegentlich die Zeitschrift. Er selbst hatte einzelne Artikel überflogen und für harmlos befunden. Sollten die Frauen ihren Spaß haben. Wenn ihm die vielen Käufer nur nicht den Weg versperrten! »Platz da!«, rief er.
Tatsächlich versuchten einige der Mamsellen, zur Seite auszuweichen. Nur war da kein Platz. Die Frauen zeterten wie aufgescheuchte Hühner. Doch als sie zu Gontard glotzten, riefen sie eilig Entschuldigungen.
Gontard lief einen großen Bogen um den Pulk und trat auf die Friedrichstraße. Hier bewegten sich die Fuhrwerke im Schritttempo durch das Gedränge. Auf der anderen Straßenseite sah es kaum besser aus. Erst in Richtung der Dorotheenstraße wurde die Menge lichter. Zum Glück war das sein Weg. Gontard legte einen finsteren Blick auf, und tatsächlich machten ein paar arme Schlucker Platz. Mit jedem Schritt kam er leichter voran. Nach ein paar Metern achtete er gar auf einzelne Gesichter in der Masse. War das nicht … Oje!
»Herr Oberst-Lieutenant, was für ein schöner Zufall!« Criminal-Commissarius Waldemar Werpel kam ihm entgegen und war so gut gelaunt, als sei er auf dem Weg zu seiner Beförderung.
»Herr Criminal-Commissarius, ich bin etwas in Eile«, flunkerte Gontard. Eigentlich war es egal, ob er in fünf, zehn oder zwanzig Minuten zum Mittagessen in seinem Haus um die Ecke ankam.
»Ach, ich dachte, Sie wollen vielleicht etwas über die aktuellen Criminalfälle hören …« Werpels Grinsen wurde immer breiter.
»Gibt es etwas zu berichten?«, fragte Gontard und fand, dass er eine Spur zu interessiert klang.
»Gestern stand der Tagelöhner Helm vor Gericht und wurde verurteilt.«
Gontard kannte die Geschichte aus der Gerichts-Zeitung . Der Arbeiter hatte einen Kollegen erstochen, ein anderer Arbeitskamerad hatte danebengestanden und alles bezeugen können. Die Tat war vor ein paar Monaten geschehen, gar nicht weit von hier, in der Großen Friedrichstraße No. 219. Im Hof des Geheimen Justizraths Bode hatten die drei Tagelöhner Holz geschlagen, als es zu dem Streit gekommen war. Da hatte es nicht viel zu ermitteln gegeben.
»Stellen Sie sich vor, Herr Oberst-Lieutenant, der Kerl hat noch in der Verhandlung das Unschuldslamm gespielt, obwohl er längst überführt war!« Werpel stemmte seinen rechten Arm in die Seite.
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