„Weil sie müde sind.“
„Papa, wo ist unsere Tasche?“, ließ sich der aufgeweckte Junge nicht beirren. Das war eine Schrecksekunde. Tatsächlich – die Reisetasche und auch der knallrote Trolley fehlten. Eine aufgeregte, hektische Suche begann, in deren Folge die übrigen Reisenden des Abteils erwachten, etwas ratlos. Auch sie vermissten einzelne Gepäckstücke oder Hand- und Brieftaschen, konnten sich aber im Gegensatz zu der bilingualen chinesischdeutschen Familie an die Details der letzten dreißig Minuten nicht erinnern. Es bestand eine Amnesie. Über Handy wurde die Polizei alarmiert. Urinproben wurden eingesammelt, eine Großrazzia gestartet. Schon am Nachmittag stand das Ergebnis fest: Biokoka war mit der Partydroge Liquid Ecstasy verunreinigt worden, einer Art K.-o.-Tropfen. Ein bekannter Serientäter hatte vor vielen Jahren sexuelle Handlungen an bewusstlosen Frauen mit Liquid Ecstasy vollzogen und war wegen zahlreichen Vergewaltigungen insgesamt zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Nun, hierzu war es Gott sei Dank nicht gekommen.
Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man im Konzern über diese schockierende Schlagzeile, mutmaßte ergebnislos: „Welches Komplott kann nur hinter der potenziell den Ruf schädigenden Affäre stecken?“
Fade wurde investigativ mit der näheren Ursachenanalyse beauftragt und erstellte zunächst mit einer Projektgruppe ein fischförmiges Ishikawa-Diagramm mit den Rubriken Mensch, Natur, Maschine und Technik für die Fehlersuche. In einer Sondersitzung sollten uns die Ergebnisse dargelegt werden. Er präsentierte eine PowerPoint, während die hübsche Assistentin Yolanthe, modisch im kleinen schwarzen Mini, nicht von seiner Seite wich und artig und adrett mit den billigen Porzellantassen für Tee und Kaffee schepperte. Auch half sie ihm bei der Technik auf die Sprünge, wenn er mit erlernter Hilflosigkeit Blickkontakt suchte oder ins Leere zu greifen drohte.
„Die chemische Analyse der entsprechenden Serie hat Verunreinigungen mit Liquid Ecstasy ergeben. Eigentlich schmeckt es bitter, aber diese potenzielle Geschmacksirritation wurde mit Orangensaft neutralisiert“, führte er aus.
„Wo vermuten Sie die Sicherheitslücke, die diesen Sabotageakt ermöglichte?“, fragte Panther streng und zog nun seinerseits irritiert asymmetrisch seine Augenbrauen hoch in die von tiefen Querfurchen zerpflügte Denkerstirn als Zeichen hochgradiger Anspannung, zum Äußersten entschlossen.
„Nun …“ Fade zögerte, deutlich verunsichert durch diese direkte Frage, die keinerlei Ausweichen ermöglichte. „Es gibt verschiedene Indizien, aber keine sichere Spur“, versuchte er, Zeit zu gewinnen. Panther trommelte ungeduldig im Bonanza-Takt auf sein Rednerpult. Die Beklemmung im Saal stieg und die verbrauchte, mit Kohlendioxid überladene Luft war zum Zerreißen gespannt. In diesem Moment brach die Technik zusammen, vermutlich ein Wackelkontakt oder eine Inkompatibilität der Programme. Fade und Yolanthe widmeten sich nun hastig einer diesbezüglichen Fehlersuche.
„Pina“, befahl Panther streng, „aufgrund Ihrer Kompetenz in Qualitätssicherung lösen Sie Fade bei der weiteren Investigation des Missbrauchsskandals ab und übernehmen das Rruder.“ Da war es wieder, dieses einschüchternde, angsteinflößende, rollende „r“. „Falls es Ihnen zu viel wird, delegieren Sie an die Kriminalpolizei“, fügte er trocken hinzu. „Die Sitzung wird bis auf Weiteres vertagt!“
Energisch bekräftigend klopfte er zweimal auf das Rednerpult und die Versammlung war beendet, während ich meinen Ohren nicht trauen wollte und ein feines Ziehen in der Magengegend verspürte, gefolgt von einem bitteren Geschmack wie von Liquid-Ecstasy.
Vor einhundert Jahren gab es schon einmal eine allgemeine quälende Erschöpfung, die damals Neurasthenie genannt wurde. Das vegetative Nervensystem gerät ins Ungleichgewicht und man fährt zur Kur. Freud sexualisierte diese Störung und machte ein Übermaß an Masturbation dafür verantwortlich. Im Übrigen wurden Konkurrenzdruck und Industrialisierung ursächlich einbezogen. Heute, im Zeitalter der digitalen Revolution, heißt es Burn-out. Im Grunde genommen wiederholt sich alles auf einem (höheren?) Niveau. Der Hegelsche Weltgeist ist in Perfektion begriffen. Geprägt hat den Begriff „Burn-out“ der Psychoanalytiker Freudenberger, der das Phänomen an sich selbst nach exzessivem Arbeiten und Schlafmangel beobachtet hat. Es entwickelt sich schleichend, sozusagen durch die Hintertür, aber legt seitdem ganze Betriebe lahm, wie eine Virus-Epidemie. Die Mitarbeiter im Konzern halten nicht Schritt mit der Beschleunigung in der modernen Zeit, hecheln ihr im Hamsterrad gefangen hinterher. Es gibt den Zwang, sich beständig zu wandeln. Flüchtige Kontakte unter Fremden. Beständig ist nur die Unbeständigkeit, die orkanartige Beschleunigung der Zeit, die jedes Gefühl betäubt. Gesundung hat nur ein Ziel: Die leistungsstarke Rückkehr in das Hamsterrad, um Tempo zu gewinnen.
Auch ich fühlte diese quälende Schlaflosigkeit und grübelte mit Schrecken darüber, wie ich den nächsten Tag mit allen seinen Anforderungen übermüdet überstehen sollte, kam kaum noch zur Ruhe, fühlte mich verbittert, deprimiert und immer wieder todmüde und ausgelaugt. Ein schuldiges Subjekt, denn es gelang mir nicht, die elektronischen Aktenberge zu erklimmen und meine E-Mails zu lesen, geschweige denn zu beantworten. Ich versetzte in letzter Minute Freunde an Geburtstagen mit einer fadenscheinigen Entschuldigung, weil ich den Kalendereintrag einfach übersehen hatte. Ich wagte es vor Scham nicht, selbst anzurufen, sondern bat Felix, uns zu entschuldigen. Abends war ich häufig zu müde, um mit ihm auszugehen. Ich nickte auf dem Sofa ein und schleppte mich erst weit nach Mitternacht in unser Kämmerlein, wenn quälende Rückenschmerzen mich weckten. Felix getraute sich nicht, mich vorher aufzuwecken, da ich dann noch fertiger war. Manchmal war ich so erschöpft, dass er mich kurzerhand tragen musste.
So konnte das nicht weitergehen. Meine Arbeitsleistung ließ sichtbar nach. Wie durch ein Wunder waren der Stau in meinem PC und meine Reizbarkeit Mr. Y bisher entgangen. Offenbar und Gott sei Dank hatte er wichtigere Missionen zu erfüllen. Ein circulus vitiosus aus aktivierter Stressachse, Muskelverspannungen, Schlaflosigkeit und tiefster Erschöpfung, der in die Depression zu münden drohte. Die Zeit war plötzlich eingefroren. Es war wie eine temporäre Erstickung, ein plötzlich erzwungener Stillstand, lebende Mumifikation. Auch die Resonanz verstummte. Viele Kollegen, selbst die robuste Gesine und der ehemals lustige Chirurg Gert mit den Zwillingen, waren schon krankgeschrieben. Zurück blieb noch mehr Arbeit, die auf den Schultern derer lastete, die sich mühsam am Rande der Dekompensation dahinschleppten. Selbst aus dem Urlaub hagelte es Krankmeldungen, da die Körper die plötzliche Entlastung nicht tolerierten. Der Sympathicotonus schnurrte in sich zusammen wie ein Gummiband durch die plötzlich fehlende Anspannung, das Immunsystem lag darnieder und man war verschnupft oder erlitt Unfälle.
Wer nicht schnurrte, war Panther, denn dieses „Schwächeln“, wie er es nannte, behagte ihm gar nicht. Inzwischen hatte er mit dem Konzern zahlreiche Auszeichnungen errungen und war zum Geheimrat ernannt worden. Er blieb energiegeladen und dynamisch wie immer und erwartete unbedingt, dass die harten Maßstäbe, denen er sich selbst unterwarf, auch von seinen Mitarbeitern in Perfektion erfüllt wurden. Ein rigides Über-Ich sorgte für die Aufrechterhaltung des pathologischen Bedingungsgefüges, ein Perpetuum mobile.
Jeder, der länger als eine Woche arbeitsunfähig war, musste Blutproben abgeben. Die Chemiker arbeiteten fieberhaft an den diesbezüglichen Analysen, was zur Folge hatte, dass auch sie vom Burn-out erfasst wurden. Ein Bereitschaftsdienst musste eingerichtet werden. Panther tobte – in wachsender Ohnmacht. Selbst Biokoka half nicht weiter, im Gegenteil, dieses Lebenselixier schien ab einer gewissen Höchstdosis eine paradoxe Wirkung zu entfalten, die Lebensenergien zusätzlich zu dezimieren. Es hatte seine betäubende Wirkung eingebüßt und steigerte den stechenden Schmerz und die Übelkeit in meiner geplagten Magengrube. So schüttete ich es kurzentschlossen in den Ausguss, nicht ohne vorher den Computer herunterzufahren, um Mr. Y daran zu hindern, mich über Skype auszuspähen.
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