Kurzum lautet „[d]ie Erfolgsformel für einen konkurrenzfähigen Skisprung […] also: hohe Absprunggeschwindigkeit plus optimaler Drehimpuls gleich große Weite. 13“
Und wenn einer weiß, wie es geht, dann jemand wie Hannawald, schließlich ist die Liste seiner Erfolge lang. Da wären 18 Einzelsiegen im Weltcup 14, der Team-Olympiasieg 2002 und eine Silbermedaille im Einzel im selben Jahr und Silber mit dem Team 1998 in Nagano 15, zwei Weltmeistertitel mit dem Team, sowie einmal Silber und Bronze 16und der Sieg bei der Skiflug-Weltmeisterschaft 2000 im Norwegischen Vikersund und die folgenden Titelverteidigung im Tschechischen Harrachov zwei Jahre später 17.
Abbildung 2f) und g): Die Slowenin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Sommer Grand-Prix‘ 2015 in Courchevel (Frankreich).
Im Standbild 2f) sieht man, wie exakt Rogelj den Absprung trifft. Die Fußspitzen sind exakt auf Schanzentischkantenhöhe, die Knie leicht versetzt dahinter. Sie hat demnach nur Zentimeter zu spät die Kante erwischt, aber dies ist naturwissenschaftlich in Bezug auf die Flugkurve kaum nachweisbar. Athleten merken oft nur bei deutlich zu späten oder zu frühen Absprüngen einen Unterschied im Gefühl. Mit ihrem Körper bietet Rogelj nur eine geringe Fläche und damit wenig Luftwiderstand. Die Arme schwingen weiter in Richtung Gesäß, welches sie sanft mit dem Rest des Oberkörpers nach vorne bewegt. Den Kopf bewegt sie langsam nach oben, um so Platz für den Oberkörper zu machen. Dieser richtet sich im Folgebild 2g) weiter auf und bewegt sich nach vorne, schräg hoch von der Schanzentischkante weg. Der Winkel in Lundbys Schenkel ist nun nahezu nicht mehr vorhanden. Ebenso wie die Beine sind nun auch die Arme nahezu gestreckt.
Zu erkennen ist auch, dass Rogelj bereits Absprungkraft hat anbringen können, denn die Ski und damit auch alles darüber befindet sich ein gutes Stück oberhalb des Schanzentischs.
In den Bildern auf dieser Seite ist schließlich das zu sehen, was Glauner und Hannawald als Drehimpuls bezeichnet haben: die Bewegungen gehen nun vermehrt nach vorne. Rogelj befördert den Oberkörper schräg nach vorne – er überholt ihre Beine. Der Kopf ist weiterhin leicht gebeugt, um weniger Luftwiderstand zu erzeugen. Dass Rogelj leicht zu spät abgesprungen ist, lässt sich an ihren Ski erkennen. Diese biegen sich nämlich leicht nach unten. Das spricht dafür, dass der letzte Kraftimpuls „ins Leere“ gegangen ist. Grundsätzlich ist ihr der Absprung jedoch sehr gelungen.
Das folgende Bild 2i) zeigt Rogelj etwa fünf bis zehn Meter nach dem Absprung. Der Kopf ist nun in der Verlängerung der Wirbelsäule, also gestreckt.
Der Oberkörper bewegt sich unterdessen weiter nach vorne und bildet nun bereits eine schöne Rundung im Bereich Hüfte bis Oberschenkel, unter der sich die Luft sammeln kann. Ähnlich wie bei einem großen Flugzeug (nähere Details zum Verhalten während des Fluges folgen). Das Gesäß bewegt sich ebenfalls weiter nach vorne, die Arme nähern sich der Hüfte nun an. Es ist bereits jetzt zu erkennen, dass die Füße und der unterste Teil der Unterschenkel die Körperteile sind, die sich während des Fluges am nächsten zu Schanzentischkante befinden. Zudem gehen die Beine auseinander, die V-Stellung ist bereits angedeutet.
Abbildung 2h) und i): Die Slowenin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Sommer Grand-Prix‘ 2015 in Courchevel (Frankreich) (© Ursprüngliches Videomaterial: Stane Baloh / Bearbeitung vom Autor).
Auf den Normal-, Groß- und Flugschanzen sollte der Athlet etwa zehn bis 15 Meter nach der Schanzentischkante idealerweise die optimale Flugposition erreicht haben und die Ski zu einem V geformt haben.
Auch hier versucht man, die Ski in einem möglichst geringen Anstellwinkel in der Luft zu transportieren, um dadurch aerodynamischer zu sein. Während des Fluges sollte der Abstand zwischen Ski und Körper so gering wie möglich, dabei aber trotzdem parallel, gehalten werden, damit Fliehkräfte eine möglichst geringe Angriffsfläche haben. Ratsam ist jedoch bei Aufwind (Wind von unten), dem Wind möglichst viel Fläche zu bieten, um so ein größeres Luftpolster zu erzeugen.
Bis 1992 war dieser so genannte V-Stil bei den Kampfrichtern absolut verpönt. Der prägende Mann für diesen neuen Stil, der Schwede Jan Boklöv, und seine Nacheiferer wurden für diese Art zu springen mit deftigen Punktabzügen bestraft 18. Man sah darin die Ästhetik des Skispringens, das bis dato im Parallelstil ausgeübt wurde, gefährdet. Obwohl sich der V-Stil als effektiveres System erwies. Bis die Regelhüter schließlich ein Einsehen hatten und den V-Stil offiziell erlaubten. Das nutze Boklöv selbst schließlich nicht mehr allzu viel. Nachdem er 1988/1989 den Gesamtweltcup für sich entschied 19, zogen seine Konkurrenten nach und schon in der Folgesaison war er nicht mehr in den Top 10 zu finden. Er beendete seiner Karriere nach der Saison 1992/1993, in der er lediglich vier Zähler im Gesamtweltcup sammeln konnte.
Doch warum war und ist der V-Stil dem Parallelstil (beide Ski werden parallel in die Luft gehalten) derart überlegen? Auch diese Frage kann mit physikalischen Erkenntnissen beantwortet werden. „Der V-Stil bietet dem Wind mehr Angriffsfläche und sorgt für mehr Auftriebskraft als der Parallelsprung. Um wie viel, berechnete der Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann von der Deutschen Sporthochschule Köln bei den Olympischen Winterspielen in Lillehammer (1994) anhand von dreidimensionalen Sprungaufnahmen. Sein erstaunliches Ergebnis: Das Luftpolster beim V-Stil trägt um satte 35 Prozent besser, verglichen mit der alten Technik. Je stärker du deine Ski nach außen drücken kannst, ohne sie übermäßig zu verkanten, umso größer wird die Spannweite. Und ähnlich wie bei einem Segelflugzeug verbessert sich so die Gleitfähigkeit, weil sich ein großes Luftpolster bildet – das dich trägt und das „Fliegen“ unterstützt. 20“
Hinzu kommen verstärkend die Eigenschaften der Sprunganzüge, welche die Springerinnen und Springer bei jedem Sprung tragen: „Zusätzlich wird dieses Luftpolster durch den Balloneffekt der Sprunganzüge verstärkt. Diese sind an ihrer Vorderseite luftdurchlässig, wohingegen die Rückseite aus luftundurchlässigem Material besteht. 21„
Ein Skisprung (allein vom Beginn der Anfahrt bis zum Erreichen der V-Position) ist also ein ungemein komplexer Ablauf, welcher sich innerhalb kürzester Zeit abspielt. Schon kleinste Fehler oder Verzögerungen können fatale Folgen haben und zu einem Sturz und in der Folge Verletzungen oder gar Schlimmerem führen. Nichtsdestotrotz ist die Zahl der Stürze und Verletzungen weitaus geringer als angenommen.
Dies spricht zum einen dafür, dass die Springerinnen und Springer ihren Sport beherrschen und, dass die Wettkampfleiter sehr vorsichtig beim Bewerten der Wetterverhältnisse sind. Schließlich ist ein Skispringer oder eine Skispringerin bei dieser Freiluftsportart Wind und Wetter mehr oder weniger ausgesetzt.
Abbildung 4j) und k): Die Norwegerin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Weltcup-Finals 2014 in Planica (Slowenien).
Mit diesen beiden Bildern von Špela Rogeljs Sprung beenden wir die Besprechung der Absprung- und Flugphase. Im linken Bild ist zu sehen, dass ihre Arme nun fast unmittelbar neben ihrem Körper gelangt sind. Mit dem Oberkörper nähert sie sich ihren Ski weiter an. Es ist schön zu erkennen, wie sie die Rundung zwischen Oberkörper, Hüfte und Oberschenkel ausprägt, damit sich darunter die Luft sammeln kann.
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