Aber was mich an dem Typen vor allem faszinierte: Er war genauso braun wie ich!
Erdal stand neben Frau Koslowski, unserer Klassenlehrerin, etwas verdruckst, verlegen an seinem rosafarbenen Tornister fummelnd, der vor seinen Beinen baumelte, und diese Verlegenheit passte so gar nicht dazu, dass er bereits größer war als sie. Und eigentlich die ganze Zeit grinste. Ein richtiges Grinsegesicht war dieser Neue.
Ich fragte mich: War das ebenfalls typisch für Ausländer? Grinsten die da unten alle so? Ich überlegte, dass ich das in einer Neuauflage meiner Herkunftsgeschichte dann unbedingt einbauen musste.
»Das ist Erdal!«, stellte uns Frau Koslowski den Grinserich vor und war dabei bemüht, sich durch Rückenstreckung größer zu machen, als sie eigentlich war.
Ein Giggeln, Grunzen und Kichern breitete sich in unseren Reihen aus, als wir diesen sonderbaren Namen hörten, und auch ich konnte mir ein unterdrücktes Lachen nicht verkneifen.
Wie hieß der Kerl da? Erdal? Das klang doch irgendwie nach Fernsehwerbung!
»Vielleicht ist das ja gar nicht seine Hautfarbe«, flüsterte mir Andreas von hinten zu. »Vielleicht ist das ja Schuhcreme in seinem Gesicht!«
Ich verstand nicht sofort. »Häh?« Andreas schlug sich an die Stirn.
»Mann, bist du bescheuert! Erdal! Damit machst du dir doch die Schuhe sauber!«
»Ruhe, gefälligst!«, zischte Frau Koslowski und schob sich ihre Nickelbrille auf die Nasenspitze. Das wirkte.
Wenn ihre Nickelbrille auf der Nasenspitze landete, wusste jeder: Ein weiterer Pieps und es hagelte Hausarbeiten, Nachsitzen, in der Ecke stehen und manchmal sogar Linealschläge auf die Fingerspitzen.
Eigentlich war zu dieser Zeit die Prügelstrafe in Schulen bereits abgeschafft worden. Nur waren wir halt leider eine katholische Schule, und da lebte die bewährte Tradition noch munter ein paar Jahre weiter.
Frau Koslowski verharrte ein paar Sekunden in ihrer Pose, bis auch der leiseste Anflug von Flüstern, Kichern, Stuhlrutschen oder sonstigen Geräuschen endgültig aus dem Klassenraum entschwunden war.
Sie war schon eine recht betagte Dame, hager bis auf die Knochen, etwas bucklig, mit grauer Dauerwelle und für uns Kinder ohnehin nicht mehr weit vom Friedhof entfernt – heute weiß ich, dass sie damals gerade mal Anfang Fünfzig war.
Die Hitlerjahre und die Vertreibung aus Schlesien hatte sie einigermaßen gefasst überstanden, wie sie uns oft erzählte, doch nun merkte man ihr an, dass sie diesem seltsamen Geschöpf da neben sich etwas befremdlich gegenüber stand. Sie rieb ihre Hände aneinander, als würde sie sie in der Luft waschen wollen, und trippelte von einem Fuß auf den anderen.
»Erdal wird ab heute Schüler in unserer Klasse sein«, erklärte sie mit dem breitesten Lächeln, zu dem sie fähig war, aber das wirkte ziemlich angespannt. »Vorher hat er in Oldenburg gelebt und da ist er auch in die eine oder andere Schule gegangen. Aber eigentlich kommt er aus Anna … Anna …« Sie wandte sich Erdal zu und griff ihm an den Unterarm und – ob zufällig oder nicht – genau auf sein Doppel-S. »Wie heißt das noch gleich?«
»Anatolien!«, skandierte Erdal, mit dunklem Timbre (er war tatsächlich schon im Stimmbruch!), brüllte fast dabei, sichtlich stolz, etwas besser zu wissen als eine Lehrerin.
Ich konnte mir vorstellen, dass es nicht das erste Mal war, dass jemand Probleme hatte, dieses eigenartige Wort auszusprechen.
Und er fügte hinzu: »Da kommen aber nur meine Eltern her. Ich selber komm aus Kreyenbrück.«
Frau Koslowski lachte verlegen und ließ Erdals Arm wieder frei.
»Genau, Anatolien «, bestätigte sie.
Auf seine letzten Worte aber ging sie nicht ein. Vermutlich hatte sie sie überhaupt nicht gehört.
»Das ist gaaaanz weit weg von hier. Weiß denn jemand, wo das ist?«, fragte sie in die Runde, wahrscheinlich, um davon abzulenken, dass sie wohl selber nicht so viel darüber wusste.
Ich meldete mich.
»Spanien!«, rief ich siegessicher und meinte das einmal in einer Dokumentation im Fernsehen aufgeschnappt zu haben.
Frau Koslowski schüttelte den Kopf.
»Nein, Mathias, das verwechselst du vermutlich mit Andalusien , wo die Pampelmusen herkommen. Andalusien klingt so ähnlich, ist aber ganz woanders. Anatolien ist in der Türkei. Das ist so weit weg, dass es schon gar nicht mehr in Europa ist. Und von dort kommen viiiele, gaaanz viele Leute her zu uns, die ein bisschen so aussehen wie Erdal und so ähnliche Namen tragen.«
Wieder machte sich ein Giggeln in der Klasse breit, diesmal aber um einiges verhaltener, sodass es Frau Koslowski vermutlich gar nicht mitbekam.
Katja meldete sich, von uns immer nur »Katjes« genannt. Sie war unsere Klassenbeste und trug braune Zöpfe, eine dicke Brille und eine Zahnspange. »Und wieso sind dann Erdals Eltern hierhergekommen, wenn es so weit entfernt von hier ist?«
Frau Koslowski lächelte ihr milde zu.
»Eine gute Frage, Katja. Eine sehr gute Frage.« Sie wandte sich wieder an uns.
»Ja, wer kann uns das sagen?«, fragte sie in die Klasse. »Weiß das etwa jemand?«
Markus wusste es, mein alter Fußballfeind: »Da unten ist es so heiß, da können die alle vor lauter Hitze überhaupt nicht arbeiten. Deswegen verdienen die kein Geld und müssen zum Geldverdienen zu uns kommen. Sonst können sie sich ja nichts kaufen.«
Da Frau Koslowski leise zu lachen begann und zu Erdal blickte, der dann wohl mehr aus Höflichkeit in ihr Lachen einfiel, lachten auch alle anderen, ich eingeschlossen. Ohne genau zu wissen, worüber. Nur Markus lachte nicht, der das doch vollkommen ernst gemeint hatte.
Anschließend räusperte sich Frau Koslowski und sagte: »Naja, so ganz Unrecht hast du ja nicht damit, Markus.«
Obwohl keiner mehr etwas sagte, klatschte Frau Koslowski in die Hände und rief: »Ruhe jetzt!« – wahrscheinlich, weil sie nicht wusste, was sie denn noch zu diesem Thema erzählen sollte, weder zu Anatolien, Andalusien, den Pampelmusen, noch zu Erdals seltsamem Aussehen, das sie immer wieder verstohlen von der Seite betrachtete.
Um die Sache abzuschließen, schob sie ihn ein Stück weiter von sich weg, der Klasse zu, und sagte: »Erdal wird sich bestimmt gut bei euch einfügen. Nehmt ihn nett auf. Wenn er Fragen hat, beantwortet sie ihm. Aber er ist ja auch nicht mehr ganz so klein. Immerhin ist er ja schon viel älter als ihr, nicht wahr, Erdal?«
Sie blinzelte ihm zu.
»So, dann setz dich jetzt. Neben Mathias ist noch ein Platz frei.«
Wie Frau Koslowski ausgerechnet darauf kam, Erdal neben mich zu setzen, war mir ein Rätsel. Schließlich gab es viele andere freie Plätze.
Tatsächlich tat ich mich schwer mit diesem seltsamen Typen an meiner Seite. Ich fühlte mich beengt von ihm und irgendwie bedroht. Er war so groß, so breit, seine Ellbogen legte er stets auf meiner Tischhälfte ab und sein Haarlack stank zu mir herüber. Und dann dieses dämliche Dauergrinsen, das ich sogar wahrnahm, wenn ich ihn nicht ansah. Dieser Junge machte mich eindeutig nervös. Manchmal kippelte ich absichtlich nach hinten, um ihn von der Seite unbeobachtet betrachten zu können. Dann bemerkte ich erst, wie ähnlich er mir war – wenn man von seinem bescheuerten Haarschnitt einmal absah.
Seine Nasenflügel waren so breit wie meine, er hatte ebenfalls einen Stiernacken und genau wie ich einen kleinen Buckel. Nur seine schwarzen Locken waren nicht so ausgeprägt wie meine, es waren eher Wellen, und ich hätte sie gerne gegen meine störrischen Filzdrähte eingetauscht, die mir jeden Morgen das Kämmen zur Folter machten.
Die ersten zwei Tage sprach ich überhaupt nicht mit ihm, ich glaube auch nicht, dass jemand anderes aus der Klasse das tat.
Das lag aber nicht daran, dass sich keiner für ihn interessierte. Im Gegenteil: Wir schienen alle eine gewisse Ehrfurcht vor ihm zu haben. Wir wussten halt nicht, was geschehen würde, wenn wir einfach mal so, aus heiterem Himmel, das Wort an ihn richteten.
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