»Und wiiiie, bitteschön«, wollte er mit bedrohlichem Singsang in der Stimme wissen, als wäre ich der Täter und er der Kommissar, der mich des Mordes überführte. »Wiiiie sollst du dann bitteschön entstanden sein, wenn die sich gleich in dieses Dingsda …« Er schnippte ein paar Mal mit den Fingern, weil ihm die richtige Formulierung nicht gleich einfiel. »… in dieses … dieses Land da mit Milch und Honig aufgemacht haben?«
Ich senkte den Kopf. Da hatte er mich erwischt. Darüber hatte ich mir tatsächlich noch keine Gedanken gemacht.
Nun bohrte ich selber meinen Blick in den Rasen und ließ die Schultern in Richtung Boden sacken. Eine knifflige Frage. Wie entstand man denn überhaupt?
Um meinen Entstehungsbericht hieb- und stichfest zu machen, musste ich so etwas natürlich wissen! Denn dass der berühmte Storch für die ganze Sache verantwortlich sein sollte, glaubten mit sieben Jahren weder ich noch Markus. Im Gegenteil: Wir amüsierten uns über die Vorschüler oder Winzlinge aus dem Kindergarten, die auf unsere altkluge Frage: »Wisst ihr denn überhaupt, wo die Babys herkommen?« stolz antworteten: »Ja, klar, vom Storch!«
Dann lachten wir uns über sie kaputt, während die Kleinen ihr Gesicht verzogen: »Hast du gehört, der Winzling glaubt noch an den Storch! Ha ha! Ist der blöd!« Dabei hofften wir natürlich, dass niemand von denen auf die naheliegende Idee kommen würde, uns mal zu fragen, wie es sich denn wirklich verhielte mit diesen Babys. Denn dann wäre uns das Lachen wohl ganz schnell vergangen. Viel weiter als die Vorschüler waren wir da leider nicht.
Dann fiel es mir plötzlich ein. Da hatte mein Kumpel Lars – der war ja schon acht und wusste ganz sicher darüber Bescheid – vor Kurzem etwas erzählt. Etwas, was ich absolut nicht glauben konnte, doch von dem er geschworen hatte, dass es sich haargenau so abspielen würde.
»Ein Kuss!«, brüllte ich, überglücklich über meine Rettung in letzter Sekunde, bevor sich Markus wieder seinem angeberischen Gekicke hätte widmen können. Und ich nahm mir vor, meinem Retter Lars bei nächster Gelegenheit ein Hubba Bubba zu spendieren, ohne ihm aber genau zu erzählen, wieso ich das tat. »Sie haben sich vorher natürlich geküsst, gaaaanz lange, und dann bekam Esmeralda …«
»Esmeralda?« Markus zog die Stirn in Falten.
»Ja, Esmeralda!«, behaarte ich auf diesem, zugegeben nicht so ganz zeitgemäßen Namen, der mir da plötzlich wie aus dem Nichts in den Kopf geschossen war – ich fand allerdings, er passte irgendwie. »So hieß halt das Mädchen aus dem Land, wo Milch und Honig fließen – da kann sie ja auch nichts für. Aaalso: Sie bekam ganz heftige Bauchschmerzen, wahrscheinlich von den vielen Äpfeln, die sie genascht hatte, und ging zum Fluss. Und dann musste sie ganz dringend. Groß. Sie hat den Rock gehoben, aber natürlich so, dass es der Prinz nicht gesehen hat, sie hat sich vor ihm geniert, und dann kam stattdessen ein Baby raus, und das war ein bisschen braun, weil es aus dem Loch rauskam, wo normalerweise die Kacka rauskommt, und da ist sie selber ganz erschrocken. Da wusste sie jetzt gar nicht, was sie mit dem Baby machen sollte. Weil, sie konnte es ja nicht mitnehmen in das Land, wo Milch und Honig fließen, das wäre viel zu anstrengend gewesen, so auf dem Pferd, zwanzig Tage und Nächte, die man da reitet. Und dann hat sie plötzlich einen Korb gesehen, da unten am Fluss. Der stand da einfach rum. Und da hat sie es reingesetzt und das Baby wegschwimmen lassen. Und dann ist sie wieder zum Prinzen hochgegangen und beide sind sie glücklich miteinander weggeritten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Jawohl, genau so war das.«
Markus verzog das Gesicht und ploppte den Ball auf den Rasen. »Ein Korb? Das ist doch nicht dein Ernst. Was war denn das für ein Korb?«
»Das weiß ich doch nicht!«, echauffierte ich mich, weil ich keine Lust hatte, mir jetzt auch noch auszudenken, was für ein blödsinniger Korb denn das gewesen sein sollte. Schließlich hatte ich dieses Wunderwerk an Story gerade aus dem Stegreif improvisiert, mit allen Details und Wendungen, angereichert mit so ziemlich allen Beilagen, die ein gutes Märchen so braucht (von dem Loch, wo die Kacka rauskommt, vielleicht mal abgesehen). Das war gar nicht so einfach gewesen.
Sollte er sich doch seinen vermaledeiten Korb selber erfinden, meinetwegen einen mit rosa Schleifchen oder am besten gleich einen Einkaufskorb vom Penny-Markt!
»Woher soll ich das denn wissen? Das ist doch schon so lange her! Da war ich doch noch ein Baby! Was weiß ich, in was für einem Korb ich da gelegen habe!«
»Aber deine Eltern müssen das doch wissen – die haben dich doch schließlich gefunden, oder?«
Hmm, überlegte ich. Hatten mich meine Eltern überhaupt gefunden?
Ich entschied mich spontan dazu, dass das dann doch wohl ein wenig zu einfach wäre. Ein solch profanes Ende würde zu einer so genialen Geschichte ja auch überhaupt nicht passen.
»Nein, eine Magd war’s!«
»Eine was?!«
»Eine Magd!«
Markus schnaubte abfällig.
»Sowas gibt’s doch nur im Märchen! Überhaupt kommt mir die ganze Geschichte so vor, als ob ich sie schon mal gehört hätte.«
Stimmt, da hatte er recht. Zumindest im Halbschlaf musste eine ähnliche Geschichte sein Gehirn schon mal gestreift haben. Schließlich war er mit mir in einer Klasse, in der zweiten, und das mit dem Baby im Korb und dem Land, wo Milch und Honig fließen, hatten wir kürzlich erst bei Frau Koslowski in Reli gehabt. Doch das erwähnte ich nicht, vielleicht war mir auch selber nicht so ganz bewusst, wo ich diesen ganzen Schwachsinn eigentlich aufgeschnappt hatte.
Ich war dermaßen in meinem Element, dass ich einfach weiter fabulierte: »Du hast vollkommen recht, Markus, du hast diese Geschichte schon mal gehört. Und das nicht nur einmal. Und zwar deswegen, weil das nämlich Ortsgespräch ist in Hude, bis heute! Und ich schwöre dir, es gibt sogar Fotos von der Magd! Jedenfalls hatte die keinen Mann und kein Haus. Und da hat sie sich gedacht, da ist doch die Familie Kopetzki, die nehmen immer Kinder auf, und warum nicht dieses, da freuen die sich doch!«
»Mann, Mann, Mann!« Markus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht.«
Ich spürte, wie es in ihm ratterte. Gleich ist es soweit, jubilierte ich innerlich, setzte aber außen mein Pokerface auf. Gleich hab ich ihn vollständig überzeugt!
»Und deswegen«, wagte sich noch einmal jene Frage aus ihm heraus, die mich überhaupt zu dieser ganzen Erzählung veranlasst hatte. »Deswegen siehst du also so … so anders aus als deine Eltern und Brüder?«
»Meine Zweiteltern und meine Zweitbrüder!«, posaunte ich stolz. »Woanders hab ich natürlich noch ganz viele andere! Brüder, kann ich dir sagen, und Schwestern, so viele, davon kannst du nur träumen! In Italien! Und im Land, wo Milch und Honig fließen! Da leben die alle! Ganz weit weg! Und gaaanz glücklich!«
»Und willst du da mal hin?«, fragte er schüchtern.
Ich überlegte eine Weile, genoss dabei im Stillen meinen Triumph und die Tatsache, es meinem Fußball-Erzkonkurrenten in zumindest anderer Disziplin mal so richtig gezeigt zu haben.
»Nö«, fiel es entspannt aus meinem Mund.
Ich riss ihm den Ball aus der Hand, kickte ihn auf die Wiese und jagte hinter ihm her.
»Ist doch alles super hier!«, rief ich. » Komm, lass uns weiterspielen!«
Das war die Story, die ich Markus erzählte. Nicole erzählte ich eine ganz andere.
Sie war das einzige gleichaltrige Kind in meiner Straße und kam fast jeden Nachmittag zum Spielen auf unser Grundstück mit dem schönen, großen Rasen, wo es eine Wippe gab und eine Schaukel und einen Sandkasten. Sie selber hatte nur einen Sandkasten.
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