Die Eingeborenen nennen dort die Abwesenheit des Wassers Ebbe und versprechen einem hoch und heilig, dass das Wasser demnächst wieder kommt, und deswegen müsse man aufpassen beim Rumrennen auf dem Schlick und auf dem Sand. Sonst schneidet einem das Wasser heimtückisch mit Hilfe eines Priels den Rückweg ab und dann guckt man doof aus der Wäsche. Und damit das für die Abenteuertouristen spannender wird, veranstalten sie das jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit. Blödes Spiel.
Sie lehnen dort jede Verantwortung dafür ab und sagen, der Mond wäre schuld.
Ja, ja, wer’s glaubt. Die machen sich das einfach.
Nein, da fallen sie nicht mehr drauf rein, dann doch lieber Ostsee. Da kommt man an und ziemlich sicher ist das Wasser da, und nicht erst in ein paar Stunden wieder. Das ist einfach seriös.
Man kauft Urlaub am Wasser und man kriegt Urlaub am Wasser. Es gibt zwar auch Ebbe und Flut, aber der Tidenhub in der westlichen Ostsee beträgt gerade mal 30 cm, das ist aber von Kanton zu Kanton verschieden, äh … nein, von Ort zu Ort verschieden, wir sind ja jetzt im Norden in den Ferien und nicht mehr in der Schweiz.
Keine Überraschung also. Alles wie es sein soll. Das Wasser ist da. Der Wind aber auch. Den hatten sie eigentlich nicht gebucht. Den gibt es dort gratis und nochmal 10 % extra oben drauf, verflucht.
„Schade sind die Kinder nicht mit. Jetzt könnte man eine Schwiegermutter steigen lassen.”
„Was?”
„Na Drachen fliegen lassen.”
Logische Folge des Spruches: Ellenbogen in die Rippen – mit Kommentar.
„Hör auf, Frechling.”
Jelato lacht nur.
Sie beschliessen, gleich morgen einen Strandkorb zu mieten und gehen erstmal wie alle anderen auch an der Grenzfläche Erde-Wasser entlang. Eine Fokussierung an Grenzflächen, das kannten sie. In der Schweiz findet das Phänomen auch statt, allerdings überwiegend an der Grenzfläche Erde-Luft in den Bergen. Da sind dann auch erstaunlich viele Menschen auf einem kleinen Ort oben fokussiert und es wird eng in der Hütte.
Die See ist also wie ein Strich durch eine Ameisenstrasse. Da sammeln sich dann auch links und rechts vor dem Strich die Tiere und laufen ratlos am scheinbar nicht überquerbaren Strich entlang.
Die Ostsee beeinflusst die Psyche der Menschen auf eine sonderbare Art. Ganz offensichtlich macht die Ostsee die Menschen alle melancholisch und schwermütig und nachdenklich. Diagnose: manisch depressiv. Eine bipolare Störung durch die vielen H 2O-Dipole, müsste also besser dipolare Störung heissen, weil – kommt vom Wasser. Auf jeden Fall laufen sie dort alle mit gesenktem Kopf rum und schauen nur ab und zu auf, um mit keinem anderen Schwermütigen zusammenzustossen. Gelegentlich hat eine solche traurige Gestalt aber ein Glückserlebnis und alle anderen Schwermütigen drumherum werden mit einem Schrei darauf aufmerksam gemacht.
Wenn das einem Kind passiert, läuft es anschliessend zu Mama und Papa, zeigt stolz die Muschel oder den Stein oder sonst was, und dieses Objekt verschwindet dann in der mitgebrachten Plastiktüte. Dann geht es mit gesenktem Kopf weiter.
Der absolute Höhepunkt einer solchen freiwilligen Strandreinigung ist das Auffinden eines sogenannten Hühnergottes. Das ist ein Stein mit Loch, also eigentlich kaputt, und wer sowas findet, den hat der Glücksgott gerne.
Ihn erinnerte dieses Verhalten der Schwermütigen an den einen alten Spruch und er fragte seine Frau: „Weisst du, wodurch sich ein extrovertierter Physiker von einem introvertierten Physiker im Gespräch unterscheidet?”
„Nein.”
„Der Extrovertierte schaut auf die Schuhe seines Gesprächspartners.”
„Jööh.”
Jelato war ein umweltbewusster Mitbürger und machte sich ernste Gedanken um dieses sensible Ökosystem.
Er fragte seine Frau unvermittelt: ”Wenn alle Touristen seit Jahrzehnten jedes Jahr jede Menge Steine von hier mitnehmen, wieso hat es dann eigentlich überhaupt noch welche? Steine sind doch kein nachwachsender Rohstoff! Die treiben doch nicht im Meer und stranden hier – Bernstein mal ausgenommen.”
„Nein, sicher nicht, aber es kommen trotzdem immer neue. Vom abbröckelnden Ufer, oder angespült über Jahrhunderte von den Bergen. Und eine grosse neue Lieferung aus dem Norden ist schon angekündigt mit der nächsten Eiszeit.”
„Das mit der nächsten Eiszeit kann noch dauern, im Moment soll es ja erst mal wärmer werden. Nach Meinung der Klimaforscher soll der Meeresspiegel deshalb langsam ansteigen, wegen dem Abschmelzen der Polkappen. Wenn aber jeder Urlauber ein paar Steine vom Meer mit heim nimmt, dann wird der Meeresspiegel fallen müssen und zwar um genau die Höhe, die etwa dem Volumen der abgeschleppten Steine entspricht.”
„Vielleicht gleichen sich die beiden Effekte auch aus und alles bleibt wie es ist am Strand, mit der Ausnahme, dass die Steine weniger werden.”
Sagte ich schon, dass Kriminalisten pedantisch sind und eine Deformation professionelle haben? Wenn ja, dann sei es hiermit wiederholt.
„Es ist schön hier.”
„Deswegen kommen wir ja auch oft her.”
„Weisst du noch, wie wir früher mal in einer Kurzeitung irgendwo gelesen haben, der und der ist schon zum 25. mal da und erhält als Anerkennung eine Ehrennadel oder eine Urkunde?”
„Ja. Damals haben wir gesagt, hoffentlich werden wir nicht mal so! Und jetzt? Jetzt sind wir doch bestimmt schon zum 7-ten mal hier und finden das gut. Ich fürchte, wir werden alt.”
„Natürlich werden wir alt, und zwar genau deswegen. Warum sollen wir denn wie vergiftete Affen in der Welt herumrasen, wenn es hier so schön ist. Andere haben ein Ferienhaus und sind jeden Sommer und an vielen Wochenenden da, also immer am selben Ort. Das ist ja noch weniger Abwechslung, aber die Leute fühlen sich wohl, weil es das ist, was sie wollen.”
„Ja, die Menschen sind komisch. Da rasen sie tatsächlich aus ihrem hektischen Alltag heraus wie verrückt in die Ferien, am liebsten zu einem einsamen Inselvolk, bewundern, wie die in Ruhe leben, und dann rasen sie wieder zurück in ihren hektischen Alltag.”
„Was meinst du, wie oft fahren wir noch auf unsere Insel?”
„Bis sie mal rauskriegen, womit man noch alles Geld verdienen kann und grosse Bettenburgen bauen und dann immer ein Riesenbetrieb ist.”
„Ja, das wäre es dann mit der Ruhe. Da wäre sogar nachts noch Party am Strand. Irgendwann taucht dann noch die übliche Schickeria auf und alles ist kaputt: die Ruhe, die Preise, das Wohlfühlen. Hier wären nur noch die Angeber und ihre Gefolgschaft.”
„… und dann rasen sie mit Jet-Skis über das Wasser und irgendwelche Klatschreporter würden dauernd irgendwelchen Promis hinterhersteigen. Sie würden hier grosse Bootsstege bauen für die Angeber-Yachten, Zufahrten und teure Schickimicki-Restaurants – alles würde anders werden.”
„Und sie müssten schöne Parkplätze bauen. Für die tiefer gelegten Sportwagen sind die zur Zeit gar nichts und die teure Nobelkarosse wird womöglich schmutzig. Stell dir nur mal vor, die gnädige Frau müsste aussteigen und würde genau in eine Pfütze treten, das würde sicher zu irrsinnigen Schadensersatzansprüchen führen.”
Langsam wurde es frisch und sie beschlossen, zurück in die Ferienwohnung zu gehen, sich umzuziehen und anschliessend ab zum Essen. Morgen wären sie bestimmt den ganzen Tag am Strand. Schönes Wetter war angekündigt, und genau deswegen waren sie ja hier, zum Herumlungern am Strand, ohne Stress, ohne Handy, ohne Termine, ohne früh aufstehen und ohne Hektik auf dem Weg zur Arbeit, ohne Sachzwänge …
Es kam anders.
Denn seine Frau fragte beim Essen unvermittelt: „Hey Struppi, wie wäre es mit Frisör morgen? Du könntest das Winterfell jetzt ablegen. Es geht in den Sommer.” „Ja, und du könntest dich wieder mal enteseln lassen. Das Graue kommt wieder durch.”
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