So weit hatte ich auch gedacht. Hatte es aber bis jetzt als Vorteil betrachtet, weil uns dadurch niemand in die Quere gekommen war. Dass ich deshalb auf einer Fahndungsliste gelandet war, schockierte mich allerdings. Irgendwie war alles reichlich turbulent im Augenblick.
„Also, fang an“, kommandierte er, während er den Wagen aus der Stadt steuerte.
„Was ist an dem Abend passiert?“, fragte ich. „Als ich ankam, war vorn im Laden eine Schießerei im Gange und Gr- Frau Schmidt lag verwundet auf dem Boden.“
„Die Streife hat zwei Männer und eine Frau in den Laden gehen sehen. Die waren noch nicht richtig drin, als ein Schuss fiel. Sie sind sofort rein und wurden von einem Kugelhagel empfangen. Es gab ein ziemlich langes Gefecht. Einer der Männer wurde erschossen, der andere Mann und die Frau wurden verletzt. Die beiden sitzen jetzt in U-Haft. Einen Kollegen hat es auch erwischt. Zum Glück nur eine Fleischwunde. Die Kollegen haben dann das Lager und die Wohnung durchsucht und niemanden gefunden, nur eine Menge Blut. Als ich den Tatort inspizierte, habe ich meine Schlüsse gezogen. Dein Skatebord lag draußen, die Blutspuren führten nur in die Wohnung, nicht wieder hinaus, ein Fenster stand offen.“ Er blickte mich vielsagend an.
Mir blieb fast das Herz stehen. Scheinbar sah ich sehr erschrocken aus, denn sein Ausdruck wurde milde. „Keine Angst, ich hab nichts gesagt. Die hätten mich doch von dem Fall abgezogen und unseren Psychologen auf mich angesetzt. Das kann kein Mensch glauben, der es nicht gesehen hat.“
Erleichtert atmete ich aus, merkte erst jetzt, dass ich vor Schreck die Luft angehalten hatte.
„Ich habe mir also gedacht, dass du mit Frau Schmidt weg bist. Ich konnte mir nur nicht erklären, wieso. Und du hast keinen einzigen meiner Anrufe beantwortet. Das war nicht nur nicht fair, das war absolut beschissen.“
Er war gekränkt und er hatte recht. Er war mein bester Freund. Ich an seiner Stelle wäre ausgerastet. Unter einer ordentlichen Szene hätte ich es nicht getan. Es tat mir sehr leid. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich es ein zweites Mal wahrscheinlich nicht viel anders machen würde. Doch ich konnte mich jetzt wenigstens entschuldigen. Inzwischen hatten wir die letzten Häuser hinter uns gelassen und fuhren durch ein paar Felder auf ein Waldstück zu.
„Es tut mir leid. Ich weiß, du hast dir Sorgen gemacht.“
Julien bog auf einen Parkplatz am Waldrand ein. Er bremste etwas zu scharf, machte den Motor aus und funkelte mich an. „Sorgen gemacht? Das ist gar kein Ausdruck. Ich bin fast gestorben vor Angst um dich. Gus und Martha wollten sich schon von mir lossagen, weil ich nur noch von dir geredet habe. Gus meinte, ich solle mich endlich wieder wie ein Polizist benehmen und dass du schon groß seist – ob ich das schon gemerkt hätte. Wenn du dein Skateboard nicht zurückgelassen hättest, wäre gar niemandem aufgefallen, dass du da warst. Die Kollegen haben in den Nachbarläden herumgefragt und natürlich haben alle das Skateboard gekannt. Nachdem wir dich nicht finden konnten, haben sie geglaubt, du seist mit Frau Schmidt der Kameradschaft in die Hände gefallen. So, und jetzt du.“
Wir stiegen aus und liefen in den Wald hinein. Die Sonne leuchtete durch die Blätter der Bäume und gab ihnen diesen unbeschreiblich warmen Grünton, der jedes Mal aufs Neue eine Wohltat für meine Augen war. Ich fragte mich, ob es wohl dort, wo ich bald hingehen würde, diese wunderbare Farbe gab. Julien neben mir scharrte mit den Hufen. Ich musste meine Schilderung beginnen, bevor er mich wieder anraunzte.
„Also …“, fing ich an, „du wirst jetzt ein paar sehr erstaunliche Dinge hören, die dir vielleicht nicht immer gefallen werden. Ich werde dir alles erzählen. Doch ich habe eine Bedingung. Du musst dir erst alles anhören, bevor du einen Kommentar abgibst. Du kannst Fragen stellen, wenn du etwas nicht verstehst. Aber nur dann. Bist du einverstanden?“
Julien sah mich erstaunt an. Eine solche Einleitung aus meinem Mund, das kannte er gar nicht. Ich übrigens auch nicht. Er nickte. „Okay.“
„Gut. Frau Schmidt ist meine Großmutter.“
Er klappte den Mund auf und wieder zu.
„Ich habe es schon länger geahnt“, fuhr ich fort und dann erzählte ich ihm wirklich die ganze Geschichte. Er hörte sehr aufmerksam zu. Zwischendurch nahm er meine Hand und so liefen wir immer geradeaus den Waldweg entlang, ich redete, er nickte, staunte, litt mit mir. Als ich fertig war, blieb er stehen, drehte sich zu mir, nahm auch meine andere Hand, schaute mir in die Augen und fragte: „Wann wirst du gehen?“
Das war der Julien, den ich liebte. Und der es mit dieser Reaktion fertigbrachte, dass mir fast das Herz brach, als ich ihm antwortete. „Sobald ich hier alles geregelt habe. Länger als acht bis zehn Tage werde ich nicht brauchen.“
„Aber du weißt, dass du wegen der Kameradschaft nicht mehr gehen musst. Die Bandenkriminalität, die Mordkommission und eine Soko NS-Verbrechen sind auf sie angesetzt.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht. Allerdings beruhigt es mich auch nicht. Sie haben den Menschen auf dem Gewissen, der mir am meisten bedeutete, und sie konnten es unter euren Augen tun. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich gehe. Ich muss nach meinen Wurzeln suchen, ich muss meine Leute finden. Großmutter glaubte an die Kolonie in Südamerika und ich kann mir nicht vorstellen, dass es außer unserer Familie keine Lintu mehr gibt. Ich habe mich mein ganzes Leben nach anderen gesehnt, die so sind wie ich. Jetzt, wo ich weiß, wo ich herkomme, werde ich nicht aufgeben, bis ich sie gefunden habe.“
Es fehlte nur noch etwas dramatische Musik, um meine Worte zu unterstreichen. In den Heldenfilmen kam die immer an dieser Stelle. Die Kulisse und die Protagonisten stimmten schon mal. Deshalb zog ich mein Handy hervor und wählte eins der tragischen Lieder, die ich gespeichert hatte. Julien sah mich fragend an, während ich mitten im Wald mein jaulendes Handy in der Hand hielt.
„Die musikalische Untermalung meiner Rede“, erklärte ich schulterzuckend. Ich fühlte mich plötzlich total unwirklich, die ganze Szene hatte etwas Surreales. Was tat ich hier? Was redete ich da? Wer war dieser Mann vor mir? Was war das für ein Körper, in dem ich steckte? Das war doch eine schlechte Komödie, die hier ablief. Ich fing an zu kichern und konnte nicht mehr aufhören.
Julien hob die Augenbrauen. „Du bist echt gestört, Elli. Komm her.“ Er zog mich an seine Brust und schlang die Arme um mich. Es dauerte nicht lange, bis ich mich wieder beruhigte. Eine ganze Weile sagte keiner von uns etwas, dann flüsterte er: „Warum gibst du mir nicht die Tagebücher und sagst gegen die Brüder aus, dann stecke ich dich ins Zeugenschutzprogramm. Du musst nicht gehen. Du kannst auch von hier aus suchen.“
Ich schwieg und setzte mich wieder in Bewegung. Julien beeilte sich, an meiner Seite zu laufen. „Hast du keine Angst? Ich hab Angst. Um dich!“
„Um mich habe ich keine Angst. Nur um meine Familie, um Olivia, meine Eltern. Wenn die Kameradschaft sie findet, wird sie sie umbringen. Kannst du sie nicht beschützen?“
„Wie gesagt, wir haben das Zeugenschutzprogramm. Ich kann deine Familie mit hineinnehmen.“
„Das würde bedeuten, dass wir von hier weg müssten, eine neue Identität annehmen, richtig?“
Julien nickte.
„Ich werde mit meinen Eltern sprechen. Olivia ist ja gerade in New York. Als Aupair. Sie hat noch ein halbes Jahr. Keine Ahnung, was sie vorhat, wenn sie zurückkommt.“
Julien sah mich erstaunt an. „Das heißt, du bist einverstanden?“
War ich nicht wirklich. Und ich musste mir erst einmal über die verschiedenen Optionen klarwerden, bevor ich ihm antworten konnte. Dass meine Eltern sich auf dieses Zeugenschutzprogramm einlassen würden, war kaum vorstellbar. Jede Veränderung ängstigte sie. Dennoch musste ich es versuchen. Wenn die Kameradschaft es darauf angelegt hatte uns auszurotten, würde sie früher oder später meine Familie ausfindig machen. Auch bei Olivia war ich mir unsicher. Aber sie war im Augenblick weit weg und die Kameradschaft würde sie nicht so schnell finden. Bis dahin hätte ich vielleicht Zeit genug, sie zu überzeugen.
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