Das Tal war – anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Es hätte ein weites, sonnenbeschienenes Tal mit üppiger Vegetation sein sollen. In jedem Fantasyfilm, zumal, wenn es durch einen engen Eingang ging, durfte man einen solchen Anblick erwarten. Das hier war Realität. Nicht schlechter, nur eindeutig anders. Das Tal war schmal, die hohen Felswände links und rechts ließen es eher wie einen Canyon aussehen, obwohl es keine Anzeichen für ein Flussbett gab. Die Talsohle wurde wahrscheinlich nur in der kurzen Mittagszeit von der Sonne beschienen. Jetzt, zur frühen Morgenstunde, war das Tal schattig und kühl. Es gab eine Reihe weit auseinanderstehender Bäume, Pinien, so wie es aussah. Sie hatten mächtige Stämme und Kronen und waren sehr hoch. Ich bezweifelte, schon jemals so hohe Pinien gesehen zu haben. Ob sie dem Sonnenlicht entgegengewachsen waren? Außer diesen Bäumen war keine erkennbare Vegetation vorhanden. Ich konnte Vögel zwitschern hören, eine laue Brise wehte, sonst war es still. Ja, dieses Tal war ein guter Ort, um seine Toten zu bestatten. Unsere Toten. Eine in sich ruhende Komposition der Elemente. Hier konnte der letzte irdische Weg ruhig und klar begangen werden.
Großmutter?
Ja, wir haben es geschafft. Flieg zu dem Baum am hinteren Ende des Valle. Dort habe ich Simóns Amulett aufgehängt.
Ich flog langsam. Alle Eile war draußen, in der Welt vor der Felsspalte, zurückgeblieben.
Obwohl die Bäume wirklich groß waren, reichten sie nicht bis an den Rand des Tals hinauf. Der Kamm lag viele Meter weiter oben. Hier waren wir wirklich geschützt. In den Baumkronen konnte ich die Plattformen erkennen. Sie waren zwischen die Äste geflochten. Daneben, an den unteren Ästen, hingen die Amulette. Am letzten Baum stellte ich mich mit Großmutter in die Luft, damit sie die Amulette anschauen konnte. Großmutter bewegte sich nicht, sie schickte das Bild von Simóns Amulett in meinen Kopf. Ich machte mich auf die Suche. Auf den Anhängern waren verschiedene Tiere dargestellt, wunderschön verziert. Die Amulette waren alle aus dem gleichen Material. Es schien eine Art Metall zu sein, das ich nicht kannte und das offensichtlich alterungsbeständig war. Sie wirkten alle, als seien sie eben erst aufgehängt worden. Simóns Amulett bildete einen Wolf ab.
Ich habs gefunden.
Zeig es mir.
Ich spürte, dass sie nicht mehr viel Kraft hatte. Sie würde es wohl kaum mit den Augen ansehen wollen, so wenig wie sie in der Lage gewesen war, selbst nach dem Amulett zu suchen. Also betrachtete ich es und schickte ihr das Bild.
Das ist das Amulett von Simón. Der einsame Wolf. Wölfe sind eigentlich Rudelwesen, doch ab und zu gibt es einen, der sich allein aufmachen muss. Sie schwieg einen Augenblick. Bring mich jetzt zur Plattform.
Die Plattform war aus weichen Seilen kunstvoll zwischen mehrere Äste geflochten. Sie machte einen stabilen Eindruck, obwohl es doch Jahrzehnte her sein musste, dass sie benutzt worden war. Es schien hier keine großen Wettereinflüsse zu geben, die das Material geschwächt hätten. Ich krallte mich von unten in das Geflecht und gab kurz den Schwebezustand auf, um mit meinem Gewicht zu prüfen, ob sie uns aushalten würde. Großmutter wurde sofort schwächer. Damit hatte ich zwar gerechnet, aber es schockierte mich doch und ich beeilte mich, in den Schwebezustand zurückzukehren. Wir würden uns früh genug trennen müssen. Dann schwebte ich hinauf und legte mich mit ihr auf die Matte. Eine lange Zeit rührte ich mich nicht. Warum konnte ich nicht einfach immer so liegen bleiben? Ich fürchtete mich davor, sie loszubinden.
Elli?
Ja?
Lass mich jetzt gehen.
Warum?
Ich habe keine Kraft mehr. Der Schwebezustand zögert das Ende nur hinaus. Es ist jetzt so weit.
Wirklich?
Du weißt es.
Ja.
Wenn du mich losgebunden hast, hol mir das Amulett von Simón.
Okay.
Behutsam machte ich mich an die Arbeit. Die Knoten waren fest, die meisten musste ich mit dem Taschenmesser aufschneiden. Während ich sie löste, achtete ich sorgfältig darauf, den Körperkontakt nicht zu verlieren. Gab Großmutter alles an Kraft, was ich erzeugen konnte, bettete sie vorsichtig auf die zerschnittene Decke. Dann spähte ich nach dem Amulett, berührte sie nur noch mit meinen Beinen. Brachte mich in Position und schoss auf dem kürzesten Weg nach unten. Schnappte das Amulett im Sturzflug und war wie der Blitz zurück. Großmutter hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. Ihre Wunde blutete wieder. Ich berührte sie. Die Verbindung entstand nicht mehr von allein. Erst, als ich mich ganz auf sie konzentrierte, ließ sie sich wieder herstellen. Großmutter war sehr schwach, ich konnte sie kaum noch wahrnehmen.
Großmutter?
Sie hatte mich gehört, antwortete aber nicht.
Hier ist das Amulett.
Ich nahm ihre Hände und legte es hinein. Spürte, wie sie sich sammelte. Nach einer Ewigkeit hörte ich endlich ihre Stimme in meinem Kopf. Sie sprach sehr langsam.
Leg das Amulett an. Es wird dir Kraft geben auf deinem Weg, den du noch eine Weile allein gehen musst. Unser allmächtiger Schöpfer gebe, dass du neue Gefährten findest.
Aber es gehört zu dir und Simón.
Mach meine Bluse auf.
Ich sparte mir eine dumme Nachfrage und öffnete die obersten Knöpfe ihrer Bluse. Doch da war nichts.
Weiter unten.
Vorsichtig knöpfte ich die Bluse ganz auf. Achtete darauf, den Stoff über ihrer Wunde nicht zu bewegen. Um ihre Taille lag ein Amulett. Es zeigte einen Wolf, wie das von Simón.
Wir werden immer verbunden sein. Leg Simóns Amulett jetzt um.
Ich zögerte noch.
Es ist für dich bestimmt. Du hast das gleiche mutige Herz wie er. Wenn die Zeit gekommen ist, gib mein Amulett an deine Schwester weiter.
Okay.
Ich nahm das Amulett aus ihren Händen und legte es um meine Taille. Das Band war so gearbeitet, dass es sich mühelos an meine Größe anpassen ließ. Glatt und kühl lag das Amulett auf meiner Haut. Es war weniger schwer als es aussah. Ich hatte das Gefühl, gerade meine zweite Initiation zu erleben.
Es wird dich beschützen. Großmutters Stimme wurde immer schwächer. Schau mich an.
Ich blickte in ihr liebes faltiges Gesicht. Sie öffnete die Augen und sah mich an. Wo nahm sie jetzt noch all die Wärme her, mit der sie mich betrachtete?
Ich gehe jetzt. Leb wohl, meine tapfere Elli. Sie schloss die Augen wieder.
Leb wohl, Großmutter. Grüße Simón von mir. Und hol mich ab, wenn ich so weit bin.
Das werde ich. Aber komm nicht so schnell. Du hast noch ein Leben zu leben.
Ich blieb stumm. Hielt ihre Hand, schickte ihr all meine Liebe, umhüllte ihren müden Körper und ihren schwindenden Geist.
Ihre Schwingungen wurden immer schwächer.
Und dann – plötzlich – war sie weg.
Und ich …
saß neben ihr.
Hielt ihre Hand.
Sah sie an. Sah ihren Körper an.
Starrte.
Saß.
Hielt ihre Hand.
Starrte.
Schloss die Augen.
Atmete.
Weinte.
Saß.
Weinte. Heulte.
Hielt ihre Hand.
Heulte. Wie der Wolf auf meinem Amulett. Unserem Amulett.
Legte mich neben sie.
Weinte.
Wollte nie mehr aufstehen.
Hörte auf zu weinen.
Rührte mich nicht mehr.
Die Sonne wanderte über den Himmel.
Ich lag.
Es war heiß. Schweiß lief mir übers Gesicht.
Es wurde dunkel.
Ich rührte mich nicht.
Der Mond ging auf und wieder unter.
Ich starrte.
Rührte mich nicht.
Es wurde hell.
Ich rührte mich nicht.
Konnte nichts tun.
In mir war alles leer.
Keine leere Leere. Eine dichte Leere.
Da, wo ihre Schwingungen gewesen waren, war es jetzt dicht.
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