Meine Familie floh nach Italien, später nach Frankreich, und bei Kriegsausbruch nach Spanien in die Pyrenäen. Mein Vater fand als Handwerker überall Arbeit und so konnten wir einigermaßen überleben. Ich ging sogar an manchen Orten in die Schule. In den Pyrenäen stießen wir zu anderen Lintu. Für mich war das eine schöne Zeit. Wir lebten ganz verborgen vor dem Rest der Welt und konnten uns frei bewegen. Bis wir eines Tages von der Kameradschaft aufgespürt wurden. Irgendjemand musste uns verraten haben, anders war es nicht zu erklären. Ich war mit einer Freundin unterwegs gewesen. Als wir nach Hause kamen, war das Massaker schon vorbei. Alle waren ermordet worden. Uns nahmen sie gefangen und sperrten uns in eine kleine Zelle. Ich ahnte, dass sie schlimme Dinge mit uns vorhatten. In meiner Verzweiflung habe ich mich vor das winzige Fenster der Zelle geklemmt und in einem fort gesendet. Ich habe gehofft, dass es noch irgendwo einen Lintu geben würde, der uns hören könnte. Und wir hatten Glück. Javier hat mich gehört. Er hatte eine Gruppe junger Lintu um sich geschart, die gegen die Nazis und das Francoregime kämpften. Javier und seine Leute haben uns befreit. Ich schloss mich seiner Gruppe an. Sie wurde meine neue Familie. Ich war damals gerade siebzehn Jahre geworden. Wir waren hauptsächlich als Kuriere unterwegs, sammelten versprengte Lintu ein, schmuggelten Nachrichten, Geld und Papiere für Juden und andere Madur, die emigrieren wollten, über die Grenzen. Simón gehörte zu Javiers Gruppe. Wir verliebten uns fast sofort ineinander. Du hättest ihn sehen sollen, ein Bild von einem Lintu, flink, warmherzig und klug. Er war in deinem Alter damals. Er war die Liebe meines Lebens. Großmutter wurde still.
Zeig mir etwas von ihm, bat ich sie.
Woher weißt du, dass das geht?
Ich weiß es gar nicht, ich hatte aber gerade das Gefühl, dass es gehen könnte. Wenn du mir zeigen kannst, was du jetzt denkst, dann könntest du mir doch auch zeigen, woran du dich erinnerst.
Kluges Mädchen. Du wirst langsam eine Lintu. Ja, es geht tatsächlich. Schau her.
Ich sah den Nebel, der immer erst auftauchte, wenn er lichter wurde. Merkwürdig. Er war sonst gar nicht zu sehen. Da war vorher einfach nichts gewesen. Sehr merkwürdig, aber auch großartig. Der Nebel löste sich langsam auf und ich sah einen jungen, gutaussehenden Lintu mit braunen Locken und einem freundlichen Blick. Er bewegte sich anmutig und kraftvoll und hatte ein einnehmendes Lächeln. Kein Wunder, er lächelte ja Großmutter an. Er sagte: Ob Alfonso uns noch erkennt?, und nahm Großmutter in die Arme. Seine Stimme war warm und dunkel. Dann schloss sich der Nebel wieder.
Das war an dem Tag, an dem wir beschlossen, Alfonso zu holen. Ich behielt diesen Abend immer im Gedächtnis, weil wir beide so glücklich waren. Kurz darauf war Simón tot. Großmutter lächelte. Jetzt dauert es nicht mehr lang, dann sehe ich ihn wieder.
Ich wollte gar nicht daran denken. Tat so, als hätte ich diesen Satz nicht gehört – was natürlich bei unserer Kommunikation unmöglich war.
Was für eine schöne Erinnerung. Danke, Großmutter. Ich hätte ihn wirklich gern kennengelernt.
Ja, ihr hättet euch gut verstanden. Du bist ihm in einigen Dingen sehr ähnlich.
Worin denn?
Zum Beispiel liebte er es, den Flug der Vögel zu imitieren und sich Kunststücke auszudenken, die er dann stundenlang übte. So wie du …
Ich war verblüfft.
Woher weißt du das?
Ach Elli, ich habe viele Nächte auf unserer Wiese über dich gewacht!
Ich spürte einen Stich in der Magengegend. Sie hatte mich gesehen und nie etwas gesagt. Und jetzt war es zu spät. Jetzt starb sie. Schnell überprüfte ich meine Pforten. Dicht. Gut. Mein Unmut hatte hier nichts zu suchen. Ich würde ihn überwinden. Keine Vorwürfe.
Elli, kannst du mir verzeihen? Ihre Stimme klang ein wenig verzagt.
Wie sollte ich meiner sterbenden, geliebten Großmutter nicht verzeihen können? Ich schickte alle Wärme, derer ich mächtig war, in ihre Richtung, wollte ihr alles geben, was in meiner Macht stand, damit sie sich in diesen letzten Stunden so wohlfühlen konnte, wie die Situation es zuließ.
Ja, natürlich kann ich dir verzeihen. Ich liebe dich, und ich bin dankbar für jede Sekunde, die du mir geschenkt hast.
Danke , flüsterte sie.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass wir an einem Punkt angekommen waren, an dem nicht mehr viel gesagt werden musste. Natürlich hätte ich unendlich viele Dinge noch gern gewusst, aber ich konnte jetzt aufhören, sie wissen zu müssen. Ein innerer Frieden breitete sich in mir aus. Großmutter unterbrach ihn jäh, als sie mich auf die Felsspalte hinwies, den Eingang zum Valle.
Wir waren fast da.
Hätte Großmutter mir die Felsspalte nicht gezeigt, ich wäre glatt vorbeigeflogen. Etwa dreißig Meter über uns war das kleine V zu sehen, von dem sie gesprochen hatte. Die Felsen ragten hier fast senkrecht in den Himmel. Die Spalte begann dort oben und endete mehrere Meter unterhalb von uns. Sie war höchstens achtzig Zentimeter breit und verjüngte sich nach unten. Ich konnte nur ein paar Meter weit hineinsehen, dann wurde es dunkel. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sie irgendwo hinführen könnte. Das war der bestgetarnte Eingang, den ich mir vorstellen konnte. Besser als in jedem Abenteuerfilm.
Da hinein, hörte ich in meinem Kopf. Du musst langsam fliegen, es geht ein paar Mal um die Ecke.
Bleibt es so schmal?
Ja, aber es wird auch nicht schmaler.
Wie lange fliegen wir?
Eine Weile.
Na prima. Ich stellte fest, dass ich nicht so mutig war, wie ich immer gedacht hatte.
Keine Angst. Die Felsen rücken nicht zusammen, während wir durchfliegen. Keinem Lintu ist jemals etwas passiert. Im Gegenteil, sie schützen uns.
Okay.
Ich holte tief Luft und schwebte hinein. Nach kurzer Zeit herrschte Finsternis um uns herum. Kein Lichtstrahl drang von oben herab. Trotz angestrengten Starrens konnte ich auch nicht mehr erkennen, wo die Spalte sich oben öffnete. Gegen die Schwärze waren sogar meine Nachtsichtaugen machtlos. Ich musste meine anderen Sinne benutzen, wenn ich vorwärts kommen wollte. Großmutter lag still auf meinem Rücken. Kein Mucks war von ihr zu hören. Ich lauschte in die Dunkelheit und versuchte gleichzeitig, die Wände links und rechts von mir zu spüren. Solange es geradeaus ging, war ja alles in Ordnung, aber wenn eine Kurve käme, wollte ich nicht an die Felswand brummen. Mit weit aufgerissenen Augen und Ohren schwebte ich langsam vorwärts. Nach einer Weile schärfte sich meine Wahrnehmung. Von den Felswänden ging ein eigener Geruch aus. Die Temperatur der Wände war geringfügig anders als die der Luft, die von vorn kam. Ein kaum spürbarer Zug bewegte die Luft in der Mitte der Spalte stärker als direkt an den Felswänden. Bald bemerkte ich weit im Voraus, wann es um die Ecke ging. Keine Ahnung, mit welchem Sinn ich das wahrnahm. Es kam mir vor, als hätte ich unsichtbare Fühler, die die Umgebung vor mir abtasteten.
Langsam formte sich aus all den Details eine Art Bild vor meinem inneren Auge, ich bekam ein Gespür für die Dimension dieser Felsspalte. Sogar die Zeit, die wir bis hierher gebraucht hatten, wurde in eine Längenangabe über den Weg umgewandelt. Das machte mich etwas mutiger und ich erhöhte das Tempo. Meine Wahrnehmung erweiterte sich noch immer. Ich konnte mich an keine Situation erinnern, in der ich so verschiedene, eher schwache Eindrücke zu einem so verlässlichen Bild hatte formen können. Dann plötzlich eine neue Information, der Luftzug nahm zu. Wir mussten uns dem Ausgang nähern. Vor mir sah ich einen schwachen Lichtschein, der sehr schnell heller wurde – und dann waren wir draußen.
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