Damit darfst du nicht rechnen. Er will kein Lintu sein.
Vielleicht kann ich ihn überzeugen, wenn Julien die Kameradschaft zerschlagen hat!
Die Kameradschaft lässt sich nicht zerschlagen. Es kann so aussehen, als wäre sie verschwunden, die Ideologie jedoch wird nicht untergehen. Gedankengut lässt sich so wenig ausmerzen wie Bakterien. Irgendwo überlebt immer eine Spur. Und die wird wieder wachsen, wenn es Umstände gibt, die sie nähren. Dein Vater weiß das. Ich will dir nicht die Hoffnung nehmen, Elli. Doch du musst dich zuerst um dich selbst kümmern. Du musst versuchen, andere Lintu zu treffen, die gern sind, was sie sind, du musst von ihnen lernen. Im Augenblick bist du wie eines dieser Menschenkinder, das unter Tieren aufgewachsen ist. Du hast von deiner Umgebung gelernt und alles an dir, was nicht Madur sondern Lintu ist, hast du dir selbst beigebracht. Von vielen der Anlagen und Fähigkeiten, die du als Lintu mit in die Wiege gelegt bekamst, ahnst du noch nichts. Und wenn du sie entdeckst, musst du sie ausbilden, damit sie dir wirklich dienen. Das ist jetzt deine Aufgabe. Überleben, dein Wesen kennenlernen, dich ausbilden. Erst dann kannst du zurückkommen und versuchen, deiner Schwester und deinem Vater zu helfen.
Ich schwieg. Was Großmutter sagte, klang vernünftig, auch wenn es mir nicht gefiel. Bisher fühlte sich das alles so theoretisch an. Besondere Fähigkeiten – klar, ich hatte gerade das Gehirnsprechen kennengelernt – eine bessere Bezeichnung fiel mir noch nicht ein – und die gegenseitige Verstärkung der Kräfte, das Öffnen und Schließen der inneren Pforten, die Orientierung beim Fliegen … Wenn ich darüber nachdachte, war das eigentlich doch nicht so theoretisch. Sogar ganz schön viel in ganz schön kurzer Zeit. Wenn das so weitergehen sollte, wenn ich auf andere Lintu traf … Tatsächlich mischte sich unter all die Zweifel und Befürchtungen ein winziges Gefühl, das ich Freude nennen konnte. Freude auf mein neues Leben. Ein ungewohntes Gefühl. Gefolgt von Verwirrung. Wie konnte ich mich freuen, wo ich meine sterbende Großmutter zu ihrer letzten Ruhestatt brachte?
Großmutter?
Ja?
Ich freue mich auf mein neues Leben – unter den Lintu, wenn ich welche finde. Aber ich bin auch traurig. Sehr traurig. Ich hätte dich so gern dabei gehabt!
Atme, Elli. Lass dich nicht wieder überwältigen. Ich bin auch traurig. Ich habe zu lange gewartet. Ich wollte an deinem Vater etwas gutmachen, was sich nicht gutmachen lässt. Darüber habe ich meine Verantwortung für dich und deine Schwester vernachlässigt. Ich habe euch im Stich gelassen – ihr hättet meine Unterstützung so dringend gebraucht. Sie weinte. Ich bete zu unserem allmächtigen Schöpfer, dass die Geschicke dir gnädig sind, und du die Kolonie findest. Wenn dir das gelingt, wird sich alles zum Guten wenden. Sie schwieg einen Moment. Ich liebe dich, Elli, und ich liebe deine Schwester, auch wenn ich kaum ein Wort mit ihr gesprochen habe, und ich liebe deinen Vater. Es liegt jetzt an dir, die beiden zu retten. Du bist eine starke junge Frau, du kannst es schaffen. Auch wenn es vielleicht schwer wird.
Panik flog mich an.
Warum sprichst du so mit mir, als würdest du dich gleich verabschieden?
Sie lächelte ganz leicht. Wenn wir uns nachher trennen, werde ich zu schwach sein, um noch zu reden. Du wirst mich leichter loslassen können, wenn alles gesagt ist. Und ich wollte, dass du das hörst, solange ich bei klarem Verstand bin. So, und jetzt lass uns die Zeit nutzen. Was willst du noch wissen?
Ich brauchte nicht lange nachzudenken.
Was ist mit meiner Mutter? War sie schon immer so wie mein Vater?
Deine Mutter? Nein. Sie war ein quirliges junges Ding, als dein Vater sie zum ersten Mal mitbrachte. Ich hatte große Hoffnung, dass sie ihn dazu bringen könnte, das Leben etwas leichter zu nehmen. Das hat sie auch – er wäre bestimmt schwermütig ohne sie oder würde gar nicht mehr leben. Aber es hat nicht gereicht. Sie hat sich immer große Sorgen um ihn gemacht und sich zu sehr von seiner Ängstlichkeit vereinnahmen lassen. Sie hat ihre ganze Kraft verbraucht, um ihn am Leben zu erhalten und ist ihm dabei immer ähnlicher geworden.
Wusste sie von Anfang an, dass er ein Lintu ist?
Ich habe es ihr erzählt. Ich bin mit ihr geflogen.
Du?
Dein Vater hat sich ja geweigert. Ich hatte gehofft, sie würde Gefallen daran finden und ihn bitten, das Fliegen wieder aufzunehmen. Sie hat ihn dann auch gefragt. Aber er war eisern, was dieses Thema anging. Einen zweiten Versuch hat sie nicht mehr gewagt.
Was hat sie gesagt, als mein Vater mit dir gebrochen hat?
Sie war loyal ihm gegenüber. Sie mochte mich, aber sie lebte mit ihm. Seine Entscheidung war auch ihre Entscheidung.
Am Horizont wurden die ersten Berge von der aufgehenden Sonne in zartes Rosa getaucht. Ich musste mich eine Weile auf das Fliegen konzentrieren, denn wir befanden uns über einer baumlosen Ebene. Zwar konnte ich weit und breit keine Straße und keinen Menschen entdecken. Dennoch war nicht auszuschließen, dass wir gesehen wurden. Wir waren noch für die Nacht gekleidet und hoben uns deutlich gegen den heller werdenden Himmel ab. Zu meinem Erstaunen ließ sich die Fluggeschwindigkeit noch einmal erheblich erhöhen. Die Kommunikation nahm ich erst wieder auf, als wir den Fuß der Berge erreicht hatten. Massiv und majestätisch erhoben sie sich über unseren Köpfen. Ich drosselte das Tempo wieder. Aus der Ferne konnten wir jetzt nicht mehr gut zu erkennen sein, da der Himmel weit über uns lag.
Wo müssen wir hin?
Steig nach oben, bis du die Bergspitzen sehen kannst. Ungefähr in der Mitte bilden die Spitzen ein großes V. Links daneben wirst du einen fast waagerechten Grat erkennen und dann ein kleines V. Dort liegt der Valle.
Nach kurzer Zeit hatte ich die beschriebenen Linien gefunden.
Kann ich geradewegs dorthin fliegen oder müssen wir einen Umweg machen?
Du kannst gerade fliegen. Unterhalb des kleinen V gibt es eine schmale Felsspalte, die jetzt noch nicht zu erkennen ist. Das ist der Eingang zum Valle. Wir bleiben die ganze Zeit unterhalb des Horizonts.
Großmutter?
Ja?
Ich habe so wenig über dich erfahren. Erzähl mir von der Zeit, bevor du nach Spanien gegangen bist. Und wie du Simón kennengelernt hast.
Du weißt, wie wenig Zeit uns noch bleibt?
Ich weiß.
Bist du sicher, dass du keine wichtigeren Themen hast?
Ich bin mir sicher.
Sie schwieg einige Minuten. Dann sagte sie: Also gut. Geboren bin ich in Frankfurt als einziges Kind meiner Eltern. Wir Lintu waren immer ein kleines Volk und haben weit verstreut gewohnt, wenn wir sesshaft wurden. Trotzdem hatten wir viel Kontakt untereinander. Die Reisenden unter uns, Schausteller meistens, besuchten uns Sesshafte und brachten Nachrichten von den anderen. Da du ja jetzt weißt, wie die Kontaktaufnahme vor sich geht, kannst du dir vorstellen, dass die Kommunikation gut funktionierte. Meine Großeltern hatten sich entschlossen, sesshaft zu werden, als ihr Sohn zur Welt kam. Sie wollten ihn in die Schule schicken. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn sie weiter als Trapezkünstler mit dem Zirkus gereist wären.
Mein Vater wurde Zimmermann. Er ließ sich natürlich in den höchsten Höhen einsetzen und verdiente damit gut für die damaligen Verhältnisse. Meine Mutter war Hochseilartistin gewesen, bevor sie meinen Vater kennengelernt hatte. Ich flog oft nachts mit ihr aus und träumte davon, eine Artistin zu werden wie sie. Als die Nazis die Macht übernahmen, wurde es gefährlich für uns. Wir hatten keine guten Papiere und wurden wie die Sinti eingestuft. Dann stieß ein gewisser Ruprecht Renzer auf das Büchlein über uns, das du bei mir gefunden hast. Bis dahin hatte niemand die Abhandlung des Professors ernst genommen – zu unserem Glück, denn wir hatten oft genug erlebt, wie wir behandelt wurden, wenn die falschen Madur uns entdeckten. Es war nicht klug gewesen von dem Professor, damit an die Öffentlichkeit zu treten. Hätte er uns damals gefragt, wir hätten ihn davon abgehalten. Er hat uns keinen guten Dienst damit erwiesen, obwohl er unser Freund war. Dieser Renzer war ein Gefolgsmann Hitlers aus den unteren Reihen. Er kam auf die Idee, uns als Geheimwaffe an Hitler zu verdingen und hoffte, damit bei ihm Karriere zu machen. Er gründete die Kameradschaft und setzte sie auf uns an. Gleichzeitig ließ er alle Exemplare des Büchleins vernichten, damit kein anderer auf den gleichen Gedanken kam. Ich weiß nicht, ob es außer unseren beiden Bändchen überhaupt noch welche gibt. Es gelang der Kameradschaft, einige unserer Leute zu fangen, aber nicht, sie zur Kooperation zu bewegen, weder durch Bestechung noch durch Gewalt. Als Renzer realisierte, dass aus seiner Geheimwaffe nichts werden würde, gab er uns zur Jagd frei. Wir wurden, wo die Kameradschaft auf uns traf, sofort umgebracht. Sie machten es sich zum Sport, uns aufzuspüren und in kleine, enge Zellen zu sperren, wo sie uns beim Sterben zusahen. Die Jagd hält bis heute an, wie du siehst.
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