In dieser menschenleeren Gegend eine Ansiedlung zu finden, war gar nicht so leicht. Meine Route lag außerhalb jeglicher Reichweite von Straßen. Ich musste mehrere hohe Bäume anfliegen, bis ich in ziemlicher Entfernung etwas ausfindig machte, das wie ein Dorf aussah. Den letzten Kilometer legte ich sicherheitshalber aufrecht, knapp über dem Boden schwebend, zurück. Wenn mich jemand so gesehen hätte, hätte das schon Fragen aufwerfen können, denn ich sparte nicht an Geschwindigkeit. Es sah mich aber keiner, besser gesagt, ich sah niemanden. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Kein Wunder, bei der Hitze. Es hatte einen winzigen Marktplatz mit einer Art Bar und einer Bäckerei. Soweit ich gehört hatte, brauchte man in Frankreich nicht mehr. Zwei Croissants aus der Bäckerei, ein Café au Lait in der Bar und fertig war das absolute Glücksgefühl. Zumindest für eine kleine Weile.
Die Bar war schummerig und wunderbar kühl. Es gab keine weiteren Gäste. Das gefiel mir und ich beschloss, erst einmal hier zu bleiben. Der Patron hinter dem Tresen nickte mir freundlich zu. Seine Anwesenheit würde helfen, mich zusammenzunehmen, wenn ich die Tagebücher weiterlas. Das brauchte ich jetzt. Ich balancierte immer noch so nah am Abgrund, dass ich mir keine Nachlässigkeit erlauben konnte. Großmutter gehen zu lassen, fiel mir viel schwerer, als ich es mir gewünscht hätte. Gestern war sie gestorben – oder war es vorgestern gewesen? – und ich war noch so traurig, als wäre es gerade erst geschehen … War ich denn ganz bescheuert? Was erwartete ich eigentlich, wie schnell so was gehen würde? Vielleicht sollte ich mal eine Weile nicht mehr nachdenken, im Moment kam doch nur Blödsinn dabei heraus.
Ich suchte im Rucksack nach den Tagebüchern. Plötzlich hatte ich mein Handy in der Hand. Wow, in den Tagen unterwegs hatte ich nicht einmal daran gedacht. Natürlich war es aus. Ließ sich auch nicht anschalten. Es störte mich nicht. Ich wollte sowieso mit niemandem sprechen. Ich fand das zweite Tagebuch. Dummerweise hatte ich mir ja den schrecklichen Teil für später aufgehoben. Jetzt war später. Eindeutig nicht besser geeignet als die Nacht, in der ich mit dem Lesen angefangen hatte. Es blieb mir nichts übrig, als mich auf den Patron zu verlassen. Ich schlug das Buch auf und machte mich an die Arbeit.
Ich las das zweite Buch fertig, danach das dritte. Bestellte Wasser, noch ein Wasser, Café au Lait, noch ein Wasser und noch eins. Dann war ich durch. Und endgültig sicher, dass ich hochsensible Daten zu bewachen hatte. Großmutter hatte im letzten Teil des dritten Buches alles notiert, was sie über ihre Gegner im Francoregime und über die Mitglieder der Kameradschaft in Erfahrung gebracht hatte. Namen, Decknamen, Adressen, Daten, verübte Verbrechen. Es war eine lange Liste. Die Geschehnisse, von denen ich erfahren hatte, waren so unfassbar, dass ich zusammengebrochen wäre, wenn ich gekonnt hätte. Ich versuchte jedoch, mir nichts anmerken zu lassen, äußerlich gegenüber dem Patron, innerlich gegenüber meinem System. Ich durfte jetzt nicht nachgeben. Hatte einen Auftrag zu erfüllen – den meine sterbende Großmutter mir gegeben hatte: überleben, mich ausbilden. Die einzige Möglichkeit, die Kameradschaft zu bekämpfen. Zu besiegen. Großmutters Tod zu vergelten.
Es hielt mich nicht mehr in diesem Ort. Das einzige, was jetzt half, war körperliche Aktivität. Deshalb kehrte ich zurück zu meiner Route. Inzwischen war es fast Abend geworden. Immer noch heiß, aber nicht mehr ganz so schlimm. Dennoch ließ ich meine Straßenkleidung an, nur für den Fall. Im Wald flog ich unterhalb der Baumkronen, damit ich von oben nicht entdeckt werden konnte. Wenn ich jemanden sähe, könnte ich mich jederzeit im Grün über mir verbergen, auch wenn die Nadelbäume weniger Schutz boten als Laubbäume. Auf diese Weise kam ich nicht sehr schnell voran, doch das war mir egal. Hauptsache, ich war in Bewegung. Wenige sehr schmale Landstraßen ohne Autos kreuzten meinen Weg. Die Stille des Waldes beruhigte mich. An manchen Stellen fiel das letzte Sonnenlicht bis auf den Waldboden und beschien lauschige kleine Lichtungen, die mich unter anderen Umständen eingeladen hätten, ein wenig zu bleiben. Nach kurzer Zeit tauchten die ersten Laubbäume auf, langsam verlor sich die südliche Atmosphäre. Die Blätter rauschten leise in einer kaum wahrnehmbaren Brise und leuchteten grüngolden im letzten Sonnenlicht. Als es ganz dunkel war, wechselte ich die Kleidung und stieg über das Blätterdach. Erhöhte die Geschwindigkeit und unterbrach meinen Flug nicht mehr, bis ich zu Hause war.
Es war noch dunkel, als ich auf meinem Balkon landete. Unten auf der Straße konnte ich nichts Verdächtiges erkennen. Machte trotzdem kein Licht in der Wohnung, duschte im Dunkeln, putzte mir endlich wieder richtig die Zähne und legte mich ins Bett. Beim Einschlafen nahm ich mir noch vor, dem dauerhaften Inhalt meines Rucksacks eine Zahnbürste hinzuzufügen. Als ich erwachte, hatte ich für einen Augenblick Orientierungsschwierigkeiten. Das war seltsam, war auf dem Flug nicht vorgekommen. Ich fühlte mich fremd in der Wohnung. Es war zu viel passiert, ich war wirklich nicht mehr die Alte. Ich kramte nach meinem Handy und versuchte es zu aktivieren. Der Akku war komplett leer, dafür war die Mailbox, nachdem ich es ans Netz gehängt hatte, ziemlich voll. Alles Anrufe von Julien. Oh weh, er machte sich bestimmt Sorgen. Ich rief ihn an.
„Elli?“ Er schrie fast ins Telefon.
„Ja, hi.“
„Was heißt hier ‚ja, hi‘? Wo bist du?“
„Zu Hause.“
„Zu Hause?“
Warum wiederholte er alles, was ich sagte?
„Gehts dir gut?“
„Ja, wieso?“
„Wieso?“ Schon wieder.
„Weißt du überhaupt, was hier los ist? Du wirst gesucht! Schwing deinen Hintern ins Revier, aber ein bisschen plötzlich!“
Was war denn das für ein Ton? Ich war schon auf dem Weg an die Decke, doch dann erinnerte ich mich daran, dass er nicht wissen konnte, was ich erlebt hatte. Und ich wusste genauso wenig, was bei ihm los war.
„Bin gleich da.“ Ich schlüpfte in frische Klamotten, zog einen Müsliriegel aus der Schublade und machte mich auf den Weg. Mein Skateboard hatte ich am Laden liegen lassen, also tat ich heute nur so, als hätte ich eins. Fiel niemandem auf.
Das Revier war nicht gerade der geeignete Ort für das Gespräch, das uns bevorstand, aber für den Anfang war es mal ein Treffpunkt. Julien saß mit finsterem Blick hinter seinem Schreibtisch. Kaum hatte ich jedoch die Tür geschlossen, stand er vor mir und umarmte mich. Dann betrachtete er mich prüfend, als sei ihm die Antwort, die ich am Telefon auf seine Frage nach meinem Befinden gegeben hatte, suspekt. Nachdem er offensichtlich zu einem beruhigenden Ergebnis gekommen war, fragte er: „Wo warst du?“
Er betonte jedes einzelne Wort. Seine Methode, die Unabdingbarkeit einer ausführlichen Antwort zu unterstreichen. Kannte ich ja schon, kam mir nur in letzter Zeit etwas gehäuft vor.
„Ich erzähle dir alles, aber nicht hier“, antwortete ich leise.
Er ließ mich los, tippte etwas in seinen PC und sagte: „Gehen wir.“
Auf dem Weg steckte er den Kopf ins Nachbarbüro. „Elli Müller ist wieder aufgetaucht. Nehmen Sie sie aus der Fahndung raus.“
Dann machte er die Tür ganz auf, zerrte mich zum Vorzeigen in die Türfüllung und zurück auf den Gang. „Melde mich später“, rief er nach hinten, während er weiter meinen Arm festhielt und forsch Richtung Ausgang lief.
„Hast du eine Vorstellung davon, welche Sorgen ich mir gemacht habe?“, fauchte er, als wir im Auto saßen.
„Langsam schon“, antwortete ich lahm.
„Wir mussten davon ausgehen, dass die Kameradschaft dich und Frau Schmidt in ihre Gewalt gebracht hat“, setzte er nach.
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