Im Tor waren die übergroßen Söhne des Schöpfers im Schleier einer Nebelwolke zu sehen. Sie verschwanden und eine Horde grünheutiger Wesen tauchte im Nebel auf. Ihnen folgte eine Horde, die gelb aussah und wie den grünen Wesen, wuchs auch ihnen ein Knochenkamm auf den Köpfen.
»Das sind doch die Dragolianer und die Obinarer!«, rief der Hauptmann der Minitrolle aufgebracht.
»Ja, das sind sie tatsächlich«, sprach das Tor weiter. »Sie wurden nicht von unserem Schöpfer erschaffen. Doch er duldet bis heute ihr Dasein, denn er würde niemals selbst in unsere Welt kommen, um zu vernichten, was er nicht haben will. Er entschloss sich viel mehr, die Riesen und die Erz-Elfen im Norden viele Meilen neben dem Reich der Dämonen anzusiedeln. Die beiden Völker wuchsen schnell und sie breiteten sich immer weiter aus. So siedelten sie nach wenigen Jahrhunderten an der Grenze des Dämonenreichs.«
»Und damit kam es zum ersten Grenzstreit!«, rief Barbaron dazwischen.
»Ach wirklich? Woher weißt du das?«, fragte das Gesicht und es sah mit strenger Miene zu dem kleinen König.
»Na das ist doch klar«, antwortete Barbaron. »Ich habe die Chronik des Schöpfers gelesen. Der Zauberer Meerland hat sie geschrieben, so wie sie ihm der Drachenkönig Urgos erzählte.«
»Ach ja …«, seufzte das Gesicht im Tor. »Die Drachen darf ich nicht vergessen. Sie sollten die Streitigkeiten zwischen den Dämonen und den Riesen schlichten. Doch die Söhne des Schöpfers wollten keinen Frieden. Sie sahen sich selbst als die wahren Herrscher unserer Welt. Könige wollten sie sein und sie stellten sich offen gegen den Willen ihres Vaters. Sie verbündeten sich mit den Dämonen und stellten ein gewaltiges Heer auf. Dann zogen sie gegen das Land der Riesen. Den Riesen kamen die Erz-Elfen und die Drachen zu Hilfe. In einer gewaltigen Schlacht wurde das Heer der Söhne geschlagen und der Schöpfer bestrafte sie. Auf ihrer Insel ließ er einen großen Berg aus hartem Felsen wachsen. Mit eisernen Ketten fesselte er seine ungehorsamen Kinder so, dass sie noch heute um diesen Berg herum stehen und sich nicht rühren können. An Händen und Füßen tragen sie ihre Ketten und sie sind im Laufe der Jahrtausende zu Stein erstarrt. Bevor sie erstarrten, gaben sie die schwarze Magie an die Dämonen weiter, die mit ihrer Hilfe noch weitere zwei Mal zur Schlacht antraten. Nachdem die dritte Schlacht verloren war, ereilte sie die endgültige Strafe. Der Schöpfer ließ sie von den siegreichen Erz-Elfen, Riesen und Drachen in eine große Ebene jagen. Die Erde dieser Ebene senkte sich in die Tiefe herab und eine Wand aus Felsen und Bergen wuchs drum herum. Dann bedeckte ein dickes Dach aus hartem Felsen das neue unterirdische Reich der Dämonen. Seit dem leben sie in der Dunkelheit und das Licht der Sonne ist am Tag ihr Feind.«
Das Gesicht machte eine Pause und sah zu Barbaron. Der trank gerade einen Schluck Wein aus Cylors Becher und wischte sich den Mund mit einem Tuch ab. Dann sah der kleine König aller Minitrolle wieder zum Tor. »Das kennen wir schon alles«, erklärte er. »Erzähl uns doch mal was Neues.«
Das Gesicht wankte wieder im Tor hin und her, ehe es weiter sprach. »Bevor die sieben Söhne des Schöpfers zu Stein erstarrten, kam Dämonicon zu ihnen auf die Insel. Die Dragolianer und die Obinarer lebten noch immer auf ihr. Sie hatten für jeden der Söhne einen eigenen Tempel gebaut. Von jedem Tempel führte damals ein Gang in den Berg hinein. Dort, wo sich die Gänge in einer großen Halle mitten im Berg treffen, steht ein Brunnen.«
»Schon wieder ein Brunnen«, stöhnte Barbaron. Das Gesicht sah ihn mit strenger Miene an. »Dämonicon beherrschte schon damals die schwarze Magie sehr gut«, sprach es weiter. »Als er auf die Insel kam und den Brunnen im Berg sah, da war ihm klar, das er den Ort gefunden hatte, der das Schicksal der Söhne des Schöpfers vollenden würde. Er wurde ihr erster Zauberer und die Dragolianer und die Obinarer mussten auch ihm dienen. Die sieben Alten wurden die Söhne des Schöpfers ab dieser Zeit genannt. Langsam wurden sie zu Stein, denn sie gaben immer mehr die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit auf. Der Schöpfer konnte ihnen ihre fürchterlichen Taten nicht vergeben. Dämonicon verschloss alle Eingänge, bis auf einen einzigen. Dann ließ er über den Brunnen ein großes Loch in das Dach des Tempels schlagen. Seit dem scheint der Vollmond immer wieder in den Brunnen hinein.«
»Das ist ja alles sehr schön«, unterbrach Barbaron das Gesicht. »Doch was haben wir mit dieser alten Legende zu tun? Wir sollten uns lieber um unsere Feinde kümmern.«
»Das stimmt«, sprach das Gesicht mit einem gütigen Lächeln weiter. »Dämonicon hat vor vielen Jahrhunderten sieben magische Schlüssel erschaffen. Doch er weiß nicht, wo sie sich befinden. Und er weiß auch nicht, wie sie aussehen. Ich kenne die magischen Schlüssel um so besser und ich glaube, die sieben Kobolde können sich denken, was ich meine.«
»Ja ja, wir wissen, was du meinst«, brummte Artur vor sich hin. »Meine Brüder und ich, wir haben schon längst erfahren, wer uns erschuf und welchem Zweck wir dienen sollen. Doch wir wollen die sieben Alten nicht erwecken. Wir würden damit ein dunkles Zeitalter heraufbeschwören und selbst der Schöpfer könnte uns nicht helfen. Deshalb darf kein Kobold jemals diese verfluchte Insel betreten.«
Das Gesicht betrachtete für einen Moment mit ernster Miene den Anführer der Koboldbande, ehe es weiter sprach. »Ich muss dir widersprechen, mein lieber Artur. Einer deiner Brüder muss zusammen mit Aella zu der Insel reisen. Ich habe Snobby diese gefahrvolle Aufgabe zugedacht. Er ist listig und klug und er hat Mut.«
Das Gesicht sah zu der weißen Fee und zu dem Kobold, der seinen großen Hut auf seinem Kopf zurechtrückte und etwas verlegen in die Runde der Freunde sah.
»Nur zwei Wesen dürfen zu gleich durch das finstere Tor auf der Insel gehen,« erklärte das Gesicht. »Es schläft meist und wir wollen es auf keinen Fall wecken. Es ist bösartig und seine Magie würde unsere Freunde nicht lebend von der Insel der Alten lassen. Für die Kobolde und ihre Freunde habe ich andere Aufgaben. Artem und Tritor sollten schnell nach Ando-Hall zurückkehren. Vagho wird bald seine Krieger schicken. Der König der Schattenalp fürchtet Dämonicons Macht und er wird deshalb alles tun, was der schwarze Prinz von ihm verlangt. Außerdem haben sie den Tod von zwei schwarzen Hexern zu beklagen. Der Verlust von Morwes wird sie nicht weiter kümmern, doch Mauran war für sie ein wichtiger Mann. Sie werden auf Rache sinnen. Ich kann wittern, dass sie deshalb etwas Gemeines planen. Doch ich kann ihre Pläne nicht genau erkennen. Zu dunkel sind die Geheimnisse, so als ob sie von einem schwarzen Nebel verhüllt werden.«
Barbaron stand wieder auf der Festtafel und zeigte mit den Resten einer Hühnerkeule zu dem Gesicht. Hastig schluckte er herunter, was er im Mund hatte. Er brachte mit Mühe eine Frage hervor. »Kannst du dir mit deiner Witterung nicht etwas mehr Mühe geben?«
Mit finsterer Miene sah das Gesicht zu dem kleinen König. »So einfach geht das nicht. Das Wittern ist eine Gabe, die zu weilen etwas unbestimmt ist. Nicht alles kann man so herausbekommen. Gerade bei finsteren Gedanken ist das schwierig.«
»Na, da helfe ich dir doch ein wenig«, sprach Barbaron und er spülte den letzten Brocken Hühnerfleisch mit einem Schluck Wein hinunter. Dann zog er seinen Hauptmann zu sich heran und tippte ihm mit dem abgenagten Hühnerknochen auf die Brust. »Hör gut zu, mein Freund. Du nimmst dir noch zwei Begleiter von unserem Volk und holst mit ihnen den Kompass. Lass dich nicht aufhalten und beeile dich. Ihr springt alle drei von Tal zu Tal, bis ihr an die Drachenhöhle kommt. Dort schnappt ihr euch den Kompass. Von ihm erhaltet ihr die Koordinaten für euren Rücksprung.«
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