Vagho half dem Magier auf die Beine und leuchtete ihm mit seinem Zauberstab ins Gesicht. »Geht es wieder, oder brauchst du noch einen Schlag.«
Orapius erkannte das schadenfrohe Grinsen im Gesicht seines Herrn und er schüttelte hastig seinen Kopf. »Nein … ich bin nur etwas … aber das geht gleich wieder … ich meine … was ist denn das für ein Bann? So etwas habe ich noch nicht erlebt. Das kann nur der alte Laurus gewesen sein. Der hat hier gewohnt und wir befinden uns in seinem Keller.«
»Ja ja, der gute alte Laurentius«, spottete Vagho. »Ich werde wohl die Krone des Assgho benutzen müssen.«
»Das solltest du tun, mein Herr und Meister. Doch der Mann, dem diese kleine Truhe einst gehörte, hieß Laurus. Wir können froh sein, dass er nicht mehr lebt. Der Kerl soll unausstehlich gewesen sein. Kurz vor seinem Tod war er völlig verwildert. Und wirr im Kopf war er auch.«
Vagho setzte sich die Krone auf, mit der er die Truhe öffnen wollte. Gespannt sahen ihm Monga und Orapius zu. Er flüsterte eine Beschwörung und ein grünliches Schimmern umgab die Truhe. Das Schimmern löste sich auf und eine zweite Beschwörung ließ einen versteckten Schließmechanismus zurückfahren. Mit einem leisen Klicken gab die Verriegelung den Deckel frei. Der hob sich hoch und Monga und Orapius wollten sofort wissen, was in der Truhe war. Vagho breitete seine Arme aus und hielt sie zurück.
»Was ist los, Vagho?«, fragte die Fürstin.
Der König der Schattenalps starrte auf die Truhe und knurrte wie ein Wolf. »Da gibt es noch eine Kleinigkeit zu bearbeiten. Das grüne Flimmern hat mir verraten, das Gift im Spiel ist. Ich kann so etwas wittern. Meine Erfahrung als Meisterdieb sagt mir, dass wir nach der Quelle des Giftes suchen müssen. Schaut euch genau an, was ihr seht. Es ist wahrscheinlich ein geheimer Mechanismus. Sobald wir die Truhe berühren, wird das Gift freigesetzt.«
Orapius lief die Treppe hoch und kam gleich darauf mit einem Stein zurück. »Soll ich das gute Stück hiermit bewerfen?«, fragte er Vagho.
Der König winkte ab und nahm dem Magier den Stein aus der Hand. »Damit zerstörst du mehr, als wir gewinnen können. Doch ich habe eine bessere Idee. Wir versuchen es noch einmal mit Magie.«
Erneut sprach Vagho eine Beschwörung aus und ein unscheinbares Tuch hob sich in die Höhe. Es hatte ein kleines Fläschchen unter sich versteckt, dass durch einen ebenso kleinen Hammer zerstörte werden konnte. Der Schaft des Hammers war wie eine Feder gespannt und wurde nur von einem dünnen Faden gehalten. Vagho entfernte mit seiner Magie das Giftfläschchen und löste danach den Mechanismus aus. Der Hammer schlug zu, ohne etwas zu treffen und Monga ging langsam auf die Truhe zu.
Vagho und Orapius näherten sich ihr ebenfalls. Außer einer vergilbten Pergamentrolle lag jedoch nichts weiter in der Truhe. Der König nahm sie heraus und beleuchtete sie mit seinem Zauberstab. Er las vor, was auf dem Rolle geschrieben stand.
»Auf diesem Pergament stehen meine letzten Worte. Wer sie liest, der muss ein großer Magier sein. Oder er ist ein gerissener Dieb. Oder beides, ich weiß es nicht. Doch lies, was ich dir zu sagen habe. Die Stadt Bochea anzugreifen war wohl ein Fehler. Ihre Königin ist für mich zu mächtig. Vor meiner Tür lauern ihre Krieger. Selbst die Bauern der Umgebung wollen mich töten. Ich kann schon das Feuer ihrer Fackeln riechen. Doch sie müssen noch ein wenig mit meinem Schutzbann kämpfen. Erst dann können sie mein Haus stürmen und mich umbringen. Diese Narren glauben, dass sie mit ihrer Königin alle Zeiten überstehen werden. Doch ich weiß es besser, denn ich kenne einen geheimen Weg. Also Fremder, ich hoffe, du willst der Königin und ihrer Stadt einen Besuch abstatten und so einiges mitgehen lassen. Suche eine halbe Meile vor der Stadt den alten Wachturm auf. Er steht nördlich des großen Stadttores. Hinter diesem Turm gibt es einen verlassenen Friedhof. Da soll mein Vater bei Vollmond schon als Geist gespukt haben. Meine Mutter sagte mir das. Such das Grab meines Vaters und öffne es. Du wirst dich freuen und eine große Überraschung finden. Die habe ich mir für die Stadt Bochea und ihre Königin ausgedacht. Oh je, sie haben meinen Bann überwunden. Ich bin Laurus der Magier und ich wünsche dir mehr Glück, als ich es habe. Sie kommen, sie sind gleich da und ich muss …«
Mit einem diebischen Grinsen sah Vagho erst zu Monga und dann zu Orapius. »Den alten Narren haben sie hier bestimmt wie einen tollwütigen Hund erschlagen. Doch vorher konnte er noch seine Pergamentrolle im Keller verstecken. Ein Glück für uns, dass die aufgebrachten Krieger und Bauern einfach alles niedergebrannt haben. Da konnten sie sich nicht um den Keller kümmern und diese wertvolle Pergamentrolle blieb uns erhalten.«
Mongas Busen bebte vor Erregung, als sie Vagho die Rolle aus den Händen nahm und noch einmal Laurus letzte Zeilen las. »Das muss ein Wink des Schicksals sein. Es hat uns auserwählt und es wird uns auf jeden Fall weiterhin gewogen sein. Morgen brechen wir auf, und wenn wir den alten Wachturm gefunden haben, dann finden wir auch den Friedhof.«
Orapius rieb sich die Hände, denn er spürte die Kälte, die durch das Loch in der Kellerdecke kroch. »Wir sollten hier den Staub und die Holzreste beseitigen. Dann können wir ein Feuer machen und den Keller als Versteck benutzen. Hier ist es in der Nacht sicherer, als oben im Freien. Außerdem plagt mich der Hunger im Magen.«
Eine halbe Stunde später war der Keller von Laurus einstigem Haus sauber gefegt und ein prasselndes Feuer loderte in der Mitte. Vorsorglich hatte Vagho den Schnee wieder über den Fußboden des Hauses gefegt. Niemand sollte gleich bemerken, dass es noch einmal Gäste im Keller gab.
Selbst an den dunkelsten Tagen des Winters war der Tempel von Bochea ein hell erleuchteter Ort des Friedens und des Gebets. Alle Wesen, die den Schöpfer verehrten, kamen in der Zeit der Kälte und des Eises in den Tempel der Königin von Bochea. Theodora nahm die vielen Gaben entgegen, die für den Schöpfer als Opfer mitgebracht wurden. Wenn der Abend nahte, leerte sich der Tempel, und die Elfen, Zwerge, Zyklopen und Menschen gingen zurück in ihre Häuser. Dann war die Königin mit ihrem Gefolge und den vielen Wachen allein in dem großen Gebäude. Sie zog sich gern in ihre Gemächer zurück, um mit ihrer Tochter Helena zu speisen. Meist kam der Fürst Silberhand etwas später dazu, denn er kontrollierte am Abend die Wachen.
So war es jeden Winterabend gewesen. Dass der Fürst nicht zum Abendmahl erschien, war deshalb sehr ungewöhnlich. Die beiden Frauen saßen schon seit einer halben Stunde am Tisch und ließen sich das Essen schmecken. Als sie satt waren und der Fürst noch immer nicht erschienen war, beschlossen sie nachzuschauen.
In Begleitung zweier Zyklopenkrieger gingen sie zum großen Saal des Tempels. Dort stand der Feenthron, und dort waren auch die meisten Wachen. Keiner der Wachen salutierte, wie es üblich war, wenn die Königin den großen Saal betrat. Sie lagen überall herum und gaben ein gleichmäßiges Schnarchen von sich. Wütend sah sich die Königin um und das plötzliche Lachen ihrer Tochter vergrößerte ihren Zorn noch mehr.
Helena hatte den Fürsten entdeckt und der Anblick, den er ungewollt darbot, war für sie sehr erheiternd. Der Fürst saß festgebunden auf dem Thron. In seinem Mund steckte ein Stück seines Mantels. Auf seiner rechten Schulter saß Barbaron und auf der linken saß sein Hauptmann. Der Fürst zappelte, als hätte er ein furchtbares Jucken am ganzen Körper. Dabei wollte er sich nur von den Stricken befreien, die ihn am Aufstehen hinderten. Außer einem »Hm … hm …« war von ihm nichts weiter zu hören.
Die Königin war vom Anblick des Fürsten und dem unerwarteten Besuch der Minitrolle so überrascht, dass sie erstaunt den Thron und den Fürsten Silberhand anstarrte. Sie brauchte einen Moment, um die Situation zu begreifen. Langsam machte sich in ihrem Gesicht ein Lächeln breit und sie befreite mit einer Handbewegung und ein wenig Magie den armen Fürsten. Kaum war der auf seinen Beinen, sprangen Barbaron und sein Hauptmann zum Tor, wo sich ihr Volk versammelt hatte. Silberhand stürmte ihnen hinterher, doch er wagte es nicht, die Minitrolle anzugreifen. Barbaron schwebte in der Luft und streckte ihm mit beiden Händen seinen blauen Kristall wie eine Drohung entgegen.
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