Er hielt die Hände trichterförmig an den Mund. »Ich komme!«, schrie er laut in den Wind. Ein paar Regentropfen schlugen ihm in das erhitzte Gesicht. Der Schnee war nun schwer und klebrig, und nur mühsam kämpfte er sich voran.
Als er näher kam, sah er, was geschehen war. Über den ganzen Hang zog sich ein tiefer Riss. Die Schneemassen waren in Bewegung geraten und drohten abzustürzen; und wenn das geschah, würde die Lawine ihren Weg hinab zum Wald nehmen. Das konnte nun jeden Augenblick geschehen.
Durch die Erde ging ein Beben, und durch die Luft grollte ein Donner. Irgendwo war gerade eine schwere Lawine niedergegangen.
Der Regen wurde stärker.
»Bruno!«, rief das Mädchen.
»Bleib, wo du bist, Luzie!«, schrie er.
Immer näher schob er sich auf der Schneedecke hinauf, die ihm nun immer unsicherer vorkam und zu schwanken schien.
Abermals lief ein Beben durch die Erde, und
Bruno überlief es eiskalt.
Luzie bemerkte es ebenfalls und schloss die Augen. Denn sie glaubte, sie müsste jeden Augenblick sehen, wie der Bursche von den stürzenden Schneemassen verschlungen würde.
Aber es geschah nichts.
»Aufpassen!«, rief er. »Wirf die Skistöcke weg!«
Sie folgte seinem Befehl.
»Fahr direkt auf mich zu! Anders kommst du hier nicht raus! Keine Angst – es wird gutgehen, das verspreche ich dir! Also – abspringen! Los!«
Einen Augenblick zögerte sie noch.
»Los!«, schrie er noch einmal, aber diesmal klang es schroff und ungeduldig.
Da sprang sie ab. Ihr Sprung war keineswegs ungeschickt – aber es geschah, was sie befürchtet hatte und der Grund dafür gewesen war, dass sie so lange hier oben verharrt hatte: die Schneedecke geriet in Bewegung, und hinter ihr erklang ein donnerndes Getöse, als stürze der Berg ein. Die Lawine hatte sich gelöst.
Damit hatte Bruno gerechnet. Mit seinen starken Armen fing er Luzie geschickt auf, schwang sie auf seine Schulter und sauste wie der Wind den steilen Hang hinab.
Sie wussten in diesem Augenblick beide, worum es ging – wenn Bruno jetzt versagte oder gar stürzte, dann waren sie beide verloren. Er musste jetzt schneller sein als die Lawine. Und er musste so rasch wie möglich aus der Bahn herauskommen, die die herabstürzenden Schneemassen nehmen würden.
Nur wenige Minuten dauerte das Spiel mit dem Tod. Den beiden aber schien die Zeit sich während dieser wilden Fahrt ins Endlose auszudehnen, bis Bruno schließlich langsamer wurde und dann anhielt und Luzie auf die Füße stellte.
»Das war knapp!«, sagte er keuchend.
Nicht weit entfernt verhallte schon der Donner der niedersausenden Lawine. Sie hatte ihren Weg genommen und musste nun gerade in ein Kar gestürzt sein. Aber die beiden Menschen waren kurze Zeit im Bereich ihrer Bahn gewesen und ihr nur knapp entronnen.
»Gewonnen, Luzie!«, rief er lachend und zeigte eine Reihe blendend weißer Zähne.
Luzie schwieg; sie vermochte sich noch nicht zu fassen. Da ergriff er ihre Hände. »Luzie, Mädel, was ist denn mit dir? Was schaust du mich so an?«
Jetzt regte es sich in ihrem Gesicht. Ein Lächeln zuckte um ihren Mund. »Bruno, das hätte dir kein Mensch nachmachen können. Ich hatte schon fast mit meinem Leben abgeschlossen, als du gekommen bist. Einen zweiten Skifahrer wie dich gibt es auf der ganzen Welt nicht, einen der so viel Mut und so viel Kraft hat wie du. Du bist … der Alpenkönig!«
»Meinst du?«, fragte Bruno zurück, halb stolz und halb verlegen über ihr überschwängliches Lob. »Das war doch halb so wild, so ein zierliches Ding wie dich auf die Schulter zu nehmen …«
»Und ich sage, diese Lawine hätte jeden anderen als dich unter sich begraben. Dir aber konnte sie nichts anhaben, Alpenkönig!«
Sein Lachen erlosch. Er schaute sie plötzlich ganz ernst an.
»Vielleicht hast du ja Recht, Luzie: Mit dir und für dich bringe ich Dinge zustande, die ich sonst vielleicht auch nicht könnte.«
Sie wurde etwas verlegen und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte.
Doch im selben Moment ließ ein donnerndes Rumpeln ganz in der Nähe die beiden erschrocken zusammenfahren. Der Moment der Verzauberung war vorbei, in dem die beiden Sportskameraden vielleicht schon jetzt zu einem Liebespaar hätten werden können.
»Machen wir, dass wir hier fortkommen, Bruno«, sagte Luzie. »Nicht dass die nächste Lawine uns doch noch erwischt!«
Schweigend fuhren sie nun hintereinander talwärts.
Die Kreuzalphütte lag im tiefen Dunkel. Erst als sie schon ganz nahe gekommen waren, erkannten sie, dass die Fensterläden geschlossen waren; durch die Ritzen drang das Lampenlicht.
Die Tür stand jedoch offen. Richard war immer wieder dort aufgetaucht, um nach den beiden Ausschau zu halten. Als er nun endlich zwei Gestalten aus dem Dunkel auftauchen sah, lief er ihnen voller Erleichterung entgegen. Luzie umarmte ihn stürmisch.
»Armer Richard! Hast du dir große Sorgen um mich gemacht? Ich hatte auch Angst. Heute sind wir ihm wirklich begegnet …«
»Von wem sprichst du, Mädel?«
»Vom Bergtod!«, sagte sie versonnen.
»Luzie!«, keuchte Richard entsetzt. »Was ist denn gewesen? Erzähl es mir!«
»Später, Richard! Jetzt bin ich müde.« Sie schnallte die Schneeschuhe ab.
Bruno stand schweigend und unschlüssig abseits.
»Du kommst doch noch mit herein, Bruno?«, sagte Luzie.
Aber Bruno schüttelte den Kopf.
»Ich muss los, wenn ich noch ohne Probleme heimkommen will.«
»Bloß ein paar Minuten!«, bat sie. »Du hast doch sicher auch Hunger? Was hast du zu essen da, Richard?«
»Kässpatzen.«
»Fein. Bruno, ich bitte dich, komm mit herein!«
Da streifte auch er die Skier ab und folgte den Geschwistern ins Haus. Richard schloss die Tür.
Als sie die kleine getäfelte Stube betraten, schlug ihnen dicker Tabaksqualm entgegen, dass man hätte meinen können, an den Tischen säße ein Dutzend rauchende Männer. Aber es war nur ein einziger Gast da, der Jäger-Barthl, ein Mann in vorgerückten Jahren, mit einem dichten ungepflegten Bart, die Tabakspfeife im Mundwinkel, aus der er dicke Rauchwolken gegen die Decke stieß. Auf den offenen, karierten Hemdkragen stützte sich ein mächtiger Kropf, der immer in bedenkliches Schwanken geriet, wenn sein Besitzer einen kräftigen Zug aus seinem Krug nahm.
Ein kurzhaariger Dackel fuhr knurrend unter dem Tisch hervor, aber er zog sich sofort gehorsam wieder zurück, als sein Herr seine brummige Befehlsstimme ertönen ließ.
Voller Freude über die glückliche Wiederkehr der verlorengegangenen Schwester und des Freundes trug der Wirt sogleich ein schmackhaftes Kässpatzengericht auf, das den beiden vortrefflich mundete. Nebenbei erzählte Luzie ihr Erlebnis am Berg.
Allmählich entwickelte sich zwischen den vier Menschen ein recht lebhaftes Gespräch, und auch Bruno vergaß mehr und mehr, dass er doch eigentlich nach Hause gehen wollte, und geriet schließlich in eine geradezu übermütige Laune. Plötzlich nahm er die Gitarre von der Wand, stimmte die Saiten und begann ein Lied zu singen.
Auch Luzie hatte ihre Müdigkeit und die ausgestandene Angst längst vergessen. Ihre tiefblauen Augen sprühten vor Fröhlichkeit.
»Bravo, Bruno!«, rief sie und klatschte in die Hände. »Bitte, noch ein Lied!«
Und Bruno sang.
Der Jäger-Barthl leerte einen Krug Bier nach dem anderen und hatte schon ein wenig über den Durst getrunken. Es gefiel ihm gar zu gut in der heiteren Gesellschaft, so dass auch er nicht an Aufbruch dachte – und nun fing er zum Vergnügen der anderen plötzlich an zu jodeln.
So geschah es, dass niemand bemerkte, dass der Wind immer mehr zunahm und sich schließlich zu einem heftigen Sturm entwickelte. Sie wurden erst darauf aufmerksam, als er einen Fensterladen losriss und mit heftigem Gepolter auf- und zuschlug.
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