Bruno blickte auf, um nach dem Spötter Ausschau zu halten, und nach einigen Augenblicken entdeckte er eine Gestalt, deren Aussehen den Vorstellungen von einem bösen Berggeist nicht allzu weit entfernt war. Sie stand vor dem so genannten »Wilden Männle«, einem gezackten, grotesk geformten Felskopf, an den sich etliche Sagen um wegen böser Taten verzauberte Menschen knüpften. Das war der Geyer-Franz, ein Sonderling, der einsam in einer abgelegenen, halb zerfallenen Berghütte hauste. Der Geyer-Franz galt als harmlos, doch sein seltsames Benehmen und dazu sein verlottertes Aussehen schreckten die Leute ab. Er war ein noch junger Mann um die Dreißig, doch er ließ sich selten im Dorf sehen.
Es hieß, sein Vater sei ein gefährlicher Wilderer gewesen, der auf frischer Tat ertappt und erschossen worden sei, als der Franz noch ein kleiner Junge gewesen war. Die Mutter hatte ihn alleine großgezogen, doch der Gram hatte sie verbittert und menschenscheu gemacht und dann später, wie es im Dorf hieß, frühzeitig ins Grab gebracht.
So war es kein Wunder, dass auch der Franz ein sonderbarer Zeitgenosse war. Er züchtete Bergziegen, und davon ernährte er sich, so gut es eben ging. Seine Hütte lag hinter den Wäldern auf einer steinigen Bergwiese, und von den Menschen im Dorf wollte er so wenig wissen wie sie selbst von ihm. Und der wollte sich über ihn lustig machen? In Bruno stieg der Zorn auf.
»Was hast du da zu lachen, du Depp?«, schrie er laut, um das Rauschen des Wildbaches zu übertönen.
Der Geyer-Franz wich sofort von der Höhe zurück und verschwand.
Bruno ging weiter und schämte sich plötzlich seines Zornes gegen den anderen.
Warum sollte der Mann dort nicht lachen dürfen, nur weil Bruno selbst so düster zumute war? Schließlich hatte der Geyer-Franz keine Ahnung von Brunos Sorgen und freute sich wahrscheinlich nur über den Frühling.
Immerhin lenkten diese Überlegungen Bruno von seinem Grübeln über die missliche Lage auf dem Falkenhof ab. Wie oft war er dem Geyer-Franz schon begegnet auf seinen Bergfahrten – bei jeder Tag- und Nachtzeit schon. Doch sie hatten sich gegenseitig nie beachtet. Was mochte im Kopf dieses sonderbaren Menschen vorgehen?
Bruno nahm sich vor, sich nicht noch einmal von seiner gereizten Stimmung zu solch ungerechtem Zorn hinreißen zu lassen.
Für die Bewohner der Kreuzalphütte war die Zeit der Schneeschmelze eine einsame Angelegenheit. Das Gebirge war in dieser Zeit so unwegsam, dass sich kaum ein Mensch bei ihnen einfand, höchstens einmal der Jäger-Barthl, wenn er seinen Dienstgang durch das Revier machte.
Luzie beschäftigte sich in diesen Tagen mit allerlei Dingen des Haushaltes, zu denen sie zu anderen Zeiten nicht kam. Die kleine Gaststube wurde in eine Näh- und Flickstube verwandelt.
Aber ihre Arbeit war von einer merkwürdigen Unruhe begleitet. Immer wieder suchte ihr Blick das Fenster, um hinauszuschauen auf den schmalen Weg, der ins Tal führte.
Sie wartete auf Bruno. Er war lange nicht mehr gekommen, und sie begriff erst jetzt so richtig, wie sehr ihr seine Gesellschaft fehlte.
Es verging ein Tag nach dem anderen, doch Bruno kam nicht. Aber als er dann endlich doch auftauchte, sah sie ihn gar nicht kommen; plötzlich und unvermutet trat er in die Stube.
»Grüß dich Gott, Luzie!«, ertönte seine Stimme hinter ihr.
Sie sprang in freudiger Überraschung auf und drehte sich zu ihm um. »Bruno!«
Der Besucher schmunzelte über ihre offensichtliche Freude über sein Auftauchen. »Hast du denn auf mich gewartet?«
Luzie nickte. »Und wie! Du bist schon eine Ewigkeit nicht mehr bei uns gewesen!«
Sie rückte einen Stuhl für ihn zurecht.
»Mein Vater hat meinem Bruder den Hof übergeben, und der hat geheiratet. Es gab eine Menge zu tun, auch für mich«, sagte er.
Er erzählte ihr, was sich seit ihrem letzten Zusammensein alles zugetragen hatte, aber es blieb ihr nicht verborgen, dass in dieser Sache irgend etwas nicht stimmte. Mit feinem Gespür hörte sie einen verborgenen Kummer heraus.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie, als er schließlich schwieg. »Mir scheint, es gibt bei dieser Sache etwas, das dich bedrückt, Bruno.«
»Das mag schon sein. Es geht einem manchmal etwas gegen den Strich.« Er machte eine fahrige Bewegung, als hätte er es satt, darüber zu sprechen. »Und was treibt ihr hier auf der Hütte? Es ist wohl recht einsam geworden?«, fragte er ablenkend.
Da fing auch sie an zu erzählen von ihrem Tun und Treiben an den einsamen Tagen. Sie wusste von ein paar Hänseleien zwischen dem Jäger-Barthl und dem jungen Robert Haller zu berichten, die als Einzige zur Kreuzalphütte gekommen waren. Der Jäger-Barthl betreute ein umfangreiches Waldgebiet in den Bergen, das in Gemeindebesitz und an einen privaten Jagdherren verpachtet war, daran angrenzend befand sich der Staatswald, für den andere Leute, Staatsbedienstete, zuständig waren, darunter der junge Auszubildende Robert Haller. Wenn die beiden zusammentrafen, die gewissermaßen Konkurrenten in ihrem Gewerbe waren, dann kam es jedes Mal zu scherzhaften Sticheleien, doch Robert Haller konterte Barthls bissige Bemerkungen meist so schlagfertig, dass der Barthl oft am Ende einen hochroten Kopf bekam und seinen jungen Widersacher einen Grünling und Angeber nannte.
Je länger Bruno ihr zuhörte, desto mehr fühlte er, wie seine Sorgen von ihm abfielen. Wie gut tat es doch, endlich einmal wieder bei Luzie in der Hütte zu sitzen, ohne pausenlos über die Probleme des Falkenhofs nachzudenken! Er musste zusehen, dass er öfter Gelegenheit bekam, diese Gedanken von sich abzuschütteln.
»Schade, dass ich gleich wieder heimkehren muss, Luzie«, sagte er mit ehrlichem Bedauern.
»Ja, das ist schade«, erwiderte sie.
Er überlegte einen Moment und sagte dann: »Wenn das Wetter am Sonntag schön ist, dann könnten wir einen Ausflug hinüber zur Geißalpe machen. Sie ist wieder bewirtschaftet. Hast du Lust?«
»Gern!«, antwortete sie mit freudiger Zustimmung.
»Also – sag dem Richard einen schönen Gruß! Bis zum Sonntag! Ich werde dich hier abholen.«
Rasch drückte er ihr die Hand, und ehe sie ihm vor die Tür hinaus folgen konnte, sprang er schon über die Felsblöcke den Hang hinab.
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