Das Gefühl des Verlusts, der Abgeschiedenheit und des Alleinseins war plötzlich aufgehoben. Ich wandelte nicht mehr losgelöst von mir selbst einher, ohne mein Ich zu kennen. Verstummt war nun der Schrei der Entfremdung und Seelenpein. Ich sah mich nicht auf meine frühere Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit zurückgeworfen, in der ich mein wahres Selbst verleugnet hatte, weil es mir verleidet wurde, derweil ich eine falsche Identität heucheln und konform gehen musste mit Stereotypen, von außen aufgezwungenen und meinem Wesen nicht entsprechend. Hier stand mir frei, das zu sein, was ich war; hier durfte ich fühlen – wirklich fühlen! Hier brauchte ich nicht zu leben wie in einem Versteck, geschützt vor Sonne und Regen, sondern erfuhr die Wahrheit unverschleiert und nicht verzerrt wie im Wirren vorgeschriebener Gesetzeskataloge. Hier gab es eine Wirklichkeit zum Anfassen wie Gras oder Baumrinde. Schnell setzte ich mich wieder aufrecht hin, schaute mich hastig um und schob den Saum der knappen Tunika wieder hinunter. Was, wenn mich jemand beobachtete? Auch wir haben einen Begriff von Sittsamkeit! Ich strich den Stoff mit gewisser Würde glatt, die uns, wie ich im Zuge meiner Ausbildung erfahren hatte, gar nicht erlaubt war.
Ich fasste die Umgebung genau ins Auge.
Ich war hier, wirklich und wahrhaftig, um welchen Ort es sich auch immer handelte. Meine albtraumhafte Reise hatte ein Ende gefunden.
Nun wusste ich mit Bestimmtheit, dass ich betäubt worden war, genauso wie ich es beim ersten Mal erkannt hatte, damals weit weg in jenem Haus. Soweit ich es erfassen konnte, wirkte das ominöse Mittel jetzt aber nicht mehr, denn ich erkannte wieder, woran ich war und fühlte mich nicht länger benebelt. Man hatte zwangsweise eine Weile mit der Verabreichung der Dosis ausgesetzt. Außerdem trug ich keine Kapuze mehr, und auch die Ketten fehlten. Sogar der Halsreif war entfernt worden, ich hatte allerdings keine Ahnung von seinem Verbleib. Die Betäubung war meiner Ansicht nach gar nicht notwendig. Mein Haupt zu verhüllen und die Verwahrung in jenem Metallwagen hätte genügt. Man hätte mich praktisch sogar mit offener Ladefläche befördern können, weil ich in Ermanglung genauer Kenntnisse über diesen Planeten sowieso nicht erkannt hätte, wohin wir fuhren. Warum bloß hatte man meinetwegen solche Vorkehrungen getroffen? Die Männer hatten mich nicht einmal direkt angesprochen und nur selten in meinem Beisein miteinander geredet. Manches hatte ich aufgeschnappt. Phrasen und Unterhaltungsschnipsel, während ich im Drogendunst dahingedämmert hatte, aber nur sehr wenig und nichts, was irgendeine meiner Fragen beantwortet hätte: Wohin brachte man mich und wieso? Welches Schicksal blühte mir? Was wollten sie mit mir anstellen und zu welchem Zweck war ich hier? Warum setzte man mich nicht wenigstens über meinen Verbleib in Kenntnis? Worin bestand schon der Unterschied, ob ich es wusste oder nicht?
Wie ich erfahren sollte, ließ man Mädchen wie mich für gewöhnlich im sprichwörtlichen Dunkel tappen.
Wie dem auch sei: Jetzt war ich hier, wo auch immer hier genau war.
Wie seltsam, dass ich auf einmal wieder Angst bekam. Ich befand mich an diesem Ort und in der Gewalt Unbekannter. Der schalen Welt, von der ich entführt worden war, konnte ich mittlerweile durchaus etwas abgewinnen. Wäre ich doch bloß unter meinen eigenen Decken, in meinem eigenen Bett aufgewacht wie so oft zuvor, einfach in einer bekannten Umgebung …
Ungeachtet seiner Verlogenheit und Heuchelei, seiner ermüdenden Vortäuschungen und abgeschmackten Selbstgefälligkeit – war jener Planet kein verlässlicherer und sichererer Fleck? Die Übel dort erschienen mir zumindest größtenteils auf tröstliche Art behäbig und unscheinbar, so unterschwellig wie mikroskopisch kleine Dosen Gift in Speisen, die nur über lange Zeiträume hinweg bedrohlich sind, gleich tödlichen Gasen, die sich in der Atmosphäre sammeln, Molekül um Molekül. Es war auch wirklich so, dass sich meine Mitmenschen durch Scheuklappen und in ihrem egoistischen, ach so wichtigen Tun dazu bereit erklärten, unseren Planeten sterben zu lassen. Die Leute auf dieser Welt hingegen würden die Zerstörung ihrer Umgebung wohl nie hinnehmen. Die Natur und ihre Weisheiten bedeuten ihnen schlichtweg zu viel. Dementsprechend hin- und hergerissen fühlte ich mich. Ich wäre auf meinem trostlosen, grauen und verschmutzten Planeten unbestritten sicherer verblieben, wenn ich mich den vorherrschenden Werten angepasst und nur ja nichts hinterfragt oder gefühlt hätte und weder auf Erkenntnis noch auf Wissen erpicht gewesen wäre. Jetzt kam es mir irgendwie unerklärlicherweise gelegen, dass ich an diesem Ort gelandet war. Zwar stand für mich fest, dass hier genauso wie in meinem alten Zuhause Risiken lauerten, doch diese waren, wie ich annahm, zumindest weithin wägbar, so ähnlich wie die Zähne eines Löwen oder die Spitze einer Stichwaffe. Zudem erinnerte ich mich daran, dass die Frage eher akademischer Natur war, denn ich weilte nicht auf der Erde, sondern hier, im Guten wie Schlechten, ob es mir passte oder nicht.
Gerade hatte ich mich damit abgefunden, dass die kleine braune Tunika mein einziges Kleidungsstück blieb. Vorübergehend war mir dies peinlich gewesen, und ich hatte mich darüber geärgert, war sogar zornig geworden, denn damit war ein letzter Rest meiner alten Welt zutage getreten.
Jetzt aber empfand ich Dankbarkeit.
Fürwahr, ich trug eindeutig Kleider, an welchen sich Männer erfreuten.
Was für Tiere sind sie doch, welch herrschsüchtige, kontrollierende, befehlshaberische Kreaturen!
Mir war es jedoch gleich. Ganz plötzlich gefiel es mir, schön zu sein und dies auch hervorzukehren. Warum sollte man nicht stolz sein, wenn man gut aussieht, selbst wenn man von Männern zu ihrer Befriedigung dazu gezwungen wird, es zu zeigen? Gefällt es uns denn nicht, gesehen zu werden, wie sie es wünschen? Tun wir nicht der natürlichen Ordnung Genüge, wenn wir uns so zur Schau stellen, wie die Männer es mögen? Man muss seine Schönheit doch nicht verbergen, nur weil Hässliche Anstoß daran nehmen könnten. Hier ließen uns die Männer, falls wir mit dem Gedanken spielten, so etwas nicht durchgehen – aber welche hübsche Frau täte dies? Mittlerweile erfreute ich mich meiner Anmut und war richtiggehend unverfroren. Gleichzeitig erkannte ich aber auch die Schattenseiten, denn so machte man Männer auf sich aufmerksam und erregte sie. Schließlich entsprechen wir ihrem naturgemäßen Beuteschema. Auf einem Planeten wie diesem bleibt eine hübsche Frau oder zumindest eine wie ich nicht im Unklaren darüber, ob man sie begehrt, sie weiß, dass sie angreifbar ist und leider auch, wie ich fürchte, in großer Gefahr schwebt.
Im Pferch hatte ich auch gelernt, dass nicht alle Frauen dieser Welt meinesgleichen ähnlich sind. Damals wusste ich aber noch nicht, ob es viele dieser anderen gab, denn zu jener Zeit waren mir nur zwei untergekommen. Ich hatte sie im Pferch gesehen, geringschätzig und in ihrer ganzen Pracht. Wie geziert, wie hochmütig und kritisch sie einhergegangen waren! Ich werde später noch einmal kurz auf sie zurückkommen.
Auch für solche Frauen mochte dieser Planet ein prekäres Terrain sein.
In jedem Fall verstanden die Männer hier etwas davon, wie man Frauen kleidete, zumindest solche wie mich, falls sie sich bemüßigt sahen, ihnen überhaupt etwas anzuziehen.
Der Halsreif war verschwunden. Ich fragte mich, wie man mich davon befreit hatte.
Jawohl, ich dachte an Befreiung.
Aus heutiger Sicht ist mir unklar, wie ich seiner Bürde entgangen war.
Bislang, wie der Leser vielleicht bemerkt hat, zierte ich mich davor, meinen Status und die Bedingungen, unter denen ich bis zu diesem Augenblick auf diesem Planeten lebe, explizit zu erörtern. Vielleicht war dies närrisch, aber ich nehme an, meine Leser – falls mir eine Veröffentlichung dieser Zeilen gegönnt wird – sind nicht auf den Kopf gefallen. Ich schreibe natürlich in einer Sprache von der Erde, weil ich kein Goreanisch kann, weder lesen noch schreiben. Dass ich es je lerne, steht nicht in Aussicht. Man zieht es anscheinend vor, dass ich hier Analphabetin bleibe. Dies sind die meisten Frauen oder, mit Hinblick auf unseren Stand besser gesagt, Mädchen wie ich.
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