Sie haben wahrscheinlich Ihre eigenen Beispiele für das ruhige Meistern und sogar Genießen überaus herausfordernder Aktivitäten oder Situationen. Das Leben ist turbulent und unvorhersehbar, wunderbare Gelegenheiten bereithaltend, die aber trotzdem viel Arbeit und unvermeidliche Verluste und Schmerzen fordern. Wir können Herausforderungen nicht aus dem Weg gehen. Die einzige Frage ist, wie wir mit ihnen fertigwerden. Es gibt einen grundlegenden Unterschied in der Erfahrung vor Herausforderungen zu stehen, während Sie erleben, dass Ihre Bedürfnisse in ausreichendem Maß erfüllt sind, und die Erfahrung zu machen, vor Herausforderungen zu stehen und zu erleben, dass Ihre Bedürfnisse nicht erfüllt sind.
Grüner Bereich, roter Bereich
Wenn wir die Erfahrung machen, dass Bedürfnisse in ausreichendem Maß erfüllt sind, stellt sich ein Gefühl der Fülle und des Gleichgewichts ein. Der Körper und der Geist greifen auf ihren Ruhezustand zurück, den ich als den „anpassungsfähigen“ Modus oder den „grünen Bereich“ bezeichne. Der Körper bewahrt seine Ressourcen, tankt auf, stellt sich selbst wieder her und erholt sich vom Stress. Im Geist herrscht ein Gefühl des Friedens, der Zufriedenheit und Liebe vor – weitgefasste Überbegriffe in Bezug auf unsere Bedürfnisse nach Sicherheit, Befriedigung und Verbundenheit. Dies ist verkörpertes Wohlbefinden.
Wenn wir andererseits die Erfahrung machen, dass ein Bedürfnis nicht erfüllt ist, kommt es zu einem Gefühl des Mangels und der Störung. Etwas fehlt, etwas ist falsch. Der Körper und der Geist werden aus ihrem Ruhezustand in den „reaktiven“ Modus oder den „roten Bereich“ versetzt. Der Körper löst Kampf-Flucht- oder Erstarrungsreaktionen aus, indem er sein Immun-, Hormon-, Herz-Kreislauf und Verdauungssystem wachrüttelt. Im Geist herrscht ein Gefühl der Angst, der Frustration und der Verletzung vor – Überbegriffe bezogen auf unsere Bedürfnisse nach Sicherheit, Befriedigung und Verbundenheit. Dies stellt Stress, Not und Störung dar.
Der Unterschied zwischen dem anpassungsfähigen und dem reaktiven Modus ist an sich unscharf. Trotzdem kennen wir alle den Unterschied zwischen dem Gefühl der Kompetenz und Selbstsicherheit, während wir eine Herausforderung meistern, oder dem Gefühl der Verunsicherung und Sorge. Im Folgenden eine Zusammenfassung dieser beiden Modi:
Unsere Bedürfnisse erfüllen
Es ist möglich, die Erfahrung zu machen, dass eines dieser Grundbedürfnis nicht erfüllt ist, während die anderen beiden gestillt sind. Beispielsweise könnten sich zwei Eltern von ihrem rebellischen Jugendlichen in emotionaler Hinsicht abgekoppelt fühlen, während sie zugleich wissen, dass alle Familienmitglieder in körperlicher Hinsicht in Sicherheit sind und in der Lage, Möglichkeiten zu ergreifen, um in anderen Bereichen Dinge anzustreben, die ihnen Erfüllung bringen und lohnend für sie sind. Wenn ein Bedürfnis „rot wird“, während die anderen „grün bleiben“, dann können Reaktionen auf das unerfüllte Bedürfnis sich ausdehnen und andere Bedürfnisse einschließen; in diesem Beispiel könnten die Eltern anfangen, Angst um die Sicherheit des Jugendlichen zu entwickeln und Frustration im Hinblick auf das Ziel, ihr Kind durchs Gymnasium zu bringen, verspüren. Andererseits kann das Gefühl, in anderen Bereichen über Ressourcen zu verfügen, helfen, ein besonderes Bedürfnis anzugehen, das rot aufleuchtet; die Eltern könnten hier vom Gefühl ihres Augenmerks für die Sicherheit des Jugendlichen und vom Wissen, dass sie sehr wohl über effektive Möglichkeiten verfügen, die Anforderungen der High School zu erfüllen, zehren. Manchmal besteht alles, was Sie tun können, darin, sich eine winzig kleine grüne Zuflucht in Ihrem Inneren zu bewahren, die ruhig und stark bleibt, während der Rest von Ihnen sich in Aufruhr befindet. Doch das Gefühl dieses kleinen Zufluchtsorts macht den großen Unterschied aus, und mit der Zeit können Sie schrittweise nach draußen gehen und sich um den Rest Ihres Geistes kümmern.
Der anpassungsfähige und der reaktive Modus sind nicht bloß die Folge der Erfahrung, dass Bedürfnisse erfüllt oder unerfüllt sind. Sie sind auch zwei verschiedene Wege, Ihre Bedürfnisse zu stillen. Um ein Beispiel aus Robert Sapolskys Buch Warum Zebras keine Migräne kriegen anzuführen: Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Zebra in einer großen Herde in Afrika. Sie fressen Gras, haben ein wachsames Auge für Löwen, bleiben jedoch ruhig, interagieren mit anderen Zebras und vergnügen sich, während sie Ihre Bedürfnisse aus dem anpassungsfähigen Modus heraus erledigen. Plötzlich greifen ein paar Löwen an und Ihre Herde bricht in einen reaktiven Fluchtmodus panischer Aktivität aus, welcher rasch endet … auf die eine oder andere Art. Und dann kehren Sie und die – übriggebliebenen – anderen Zebras zu Weisen, mit dem Leben in der Savanne umzugehen, zurück, die aus dem anpassungsfähigen Modus hervorgehen.
Kurz gesagt, dies ist die Blaupause von Mutter Natur: lange Perioden der Handhabung von Bedürfnissen aus dem anpassungsfähigen Modus heraus, durchbrochen, falls nötig, von gelegentlichen Spitzen des reaktiven Stress-Reaktionsmodus, gefolgt von rascher Wiederherstellung des grünen Bereichs. Dieser Antwortmodus fühlt sich gut an, weil er gut ist: Der Körper ist geschützt und „aufgefüllt“ und der Geist fühlt sich behaglich und zufrieden. Andererseits fühlt sich der reaktive Modus schlecht an, weil er schlecht ist, vor allem auf Dauer: der Geist wird von Angst, Gereiztheit, Enttäuschung, Verletzung, Schmerz und Feindseligkeit besetzt.
Der reaktive Modus zerstört uns, während der anpassungsfähige Modus uns aufbaut. Widrigkeiten sind zweifellos eine Gelegenheit, um Resilienz, Widerstandsfähigkeit gegen Stress und sogar posttraumatisches Wachstum zu entwickeln. Doch damit eine Person aufgrund von Widrigkeiten wächst, müssen auch Ressourcen aus dem anpassungsfähigen Bereich vorhanden sein, wie etwa Entschlossenheit und Verbundenheit mit einem Sinn. Außerdem schließen die meisten Gelegenheiten im Alltagsleben, mentale Ressourcen zu erfahren und zu entwickeln, Widrigkeiten nicht ein: wir erfahren schlichtweg einen Augenblick der Entspannung, der Dankbarkeit, der Begeisterung, des Selbstwertgefühls oder der Freundlichkeit. Währenddessen sind die meisten Augenblicke der Angst, der Frustration oder des Schmerzes einfach unangenehm und stressvoll, ohne erkennbaren Nutzen, der aus ihnen resultiert. Den Widrigkeiten muss man sich stellen und von ihnen lernen, aber ich denke, dass die Menschen ihren Wert manchmal überschätzen. Im Ganzen gesehen, machen uns reaktive Erfahrungen mit der Zeit schwächer und fragiler, während Erfahrungen aus dem anpassungsfähigen Bereich dazu neigen, uns resilienter zu machen.
Der reaktive Modus entwickelte sich als eine kurzzeitige Lösung im Hinblick auf unmittelbare Lebensbedrohungen – und nicht etwa als eine Lebensweise. Obwohl wir nicht länger vor Säbelzahntigern davonlaufen, treiben uns das Multitasking, das Gerenne und der regelmäßige Stress unglücklicherweise in den roten Bereich. Dann ist es aufgrund dessen, was Forscher als Negativitätsverzerrung/Negativitätstendenz des Gehirns bezeichnen, schwer, da wieder herauszukommen.
Die Negativitätstendenz/Negativitätsverzerrung
Unsere Vorfahren mussten sich „Zuckerbrote“ in Form von Nahrung und Sex verdienen und „Peitschen“ in Gestalt von Raubtieren und Aggressionen in und zwischen ihren Gruppen entkommen. Beide sind wichtig, aber „Peitschen“ verfügen über größere Dringlichkeit und Einfluss auf das Überleben. Zurück zu den Serengeti-Ebenen: Wenn Sie dabei scheiterten, ein „Zuckerbrot“ zu bekommen, hatten Sie immer noch die Chance, ein anderes zu ergattern, doch wenn Sie dabei scheiterten, eine „Peitsche“ zu vermeiden – Aus und vorbei, niemals wieder Zuckerbrot!
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