1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Ich glaube, daß dies für jede erfolgreiche Psychotherapie zutrifft, besonders jedoch für die Gestalttherapie, in der ein Therapeut sich einer größeren Herausforderung gegenübergestellt sieht als in anderen, sowohl ein bloßer Mensch als auch Künstler zu sein. In demselben Sinne, in dem Beethoven von seiner Musik sagte, daß sie „von Herz zu Herz“ ginge, sehe ich die Handlungen des Gestalttherapeuten als nur insoweit bedeutsam an, als sie, mehr als Techniken, Ausdruck einer Perspektive sind, Verkörperungen eines lebendigen Verständnisses, die Verständnis in einer anderen Person hervorrufen können. Soweit sie in diesem lebendigen oder erfahrungsgebundenen Verständnis verwurzelt sind, werden sie das Vertrauen oder die Zuversicht hervorrufen können, die erforderlich sind, um die Psychotherapie zu einer Kommunikation zu machen, die in die Tiefe geht, statt wie ein Wortspiel an der Oberfläche zu verharren.
7 Complex, #9, 1955 (pp. 42–52) ©1955 by the 5 x 9 Press. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des The Gestalt Journal
KAPITEL 2
Die Gegenwart im Mittelpunkt
Für mich existiert nichts weiter als das Jetzt.Jetzt = Erfahrung = Gewahrsein = Wirklichkeit.Die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft noch nicht.Nur das Jetzt existiert .
FRITZ PERLS
A) ALLE THEMEN IM SPIEGEL DER GEGENWART
Im vorangegangenen Kapitel habe ich folgendes postuliert:
1. daß die Techniken der Gestalttherapie in bestimmten Haltungen verwurzelt sind;
2. daß diese Haltungen Verkörperungen einer inneren Grundhaltung sind, die sich unter dem dreifachen Aspekt – Gewahrsein, Verantwortung und Präsenz – zusammenfassen läßt;
3. daß diese Grundhaltung keine Ideologie ist, sondern selbst auf Erfahrung beruht: die Evidenz des Gegenwärtigen (Verständnis für die Tatsache, daß wir im Hier und Jetzt leben und eins mit unserem konkreten Tun sind); die Evidenz der Verantwortung (der Tatsache, daß wir tun, was wir tun und nichts anderes sind, als das, was wir sind) und die Evidenz des Gewahrseins (daß wir auf einer bestimmten Ebene wissen, was wir tun und erfahren, ganz gleich, wie sehr wir uns selbst belügen und so tun, als wüßten wir es nicht).
Auf den folgenden Seiten werde ich einen Aspekt der dreifachen Haltung der Gestalttherapie im Detail darstellen, als Beispiel für eine Form der Erläuterung, die mit jeder der drei Haltungen durchgeführt werden kann. Vor allem werde ich den Aspekt der Gegenwärtigkeit oder Präsenz erläutern, der gleichzeitig ein Aspekt der Philosophie der Gestalttherapie ist. Wie ich aufzeigen werde, spiegeln sich alle Themen in diesem Aspekt, ebenso wie in allen anderen, denn die Fragen der Präsenz, des Gewahrseins und der Verantwortung sind nur an der Oberfläche verschieden. Wenn wir genauer hinsehen, können wir beispielsweise entdecken, daß die Frage der Präsenz nicht allein mit der Würdigung von zeitlicher und örtlicher Gegenwart zu tun hat, sondern mit der Würdigung der konkreten Realität, des Spürens und Fühlens, statt des Denkens und Vorstellens, mit Gewahrsein und Selbstbestimmung. Weiterhin hoffe ich, daß die folgenden Seiten zeigen werden, daß der Wille, in der Gegenwart zu leben, untrennbar mit der Frage der Offenheit für Erfahrungen verknüpft ist, mit dem Vertrauen in die Abläufe der Realität, mit dem Unterscheidungsvermögen zwischen Realität und Phantasie, Aufgeben der Kontrolle und Inkaufnehmen einer möglichen Enttäuschung, eine hedonistische Weltsicht, Bewußtheit des möglichen Todes und so weiter. Alle diese Themen sind Facetten einer Gesamterfahrung des In-der-Welt-Seins, und die Betrachtung einer solchen Erfahrung aus der Perspektive der Gegenwartsbezogenheit ist eine Möglichkeit unter vielen.
B) GEGENWARTSBEZOGENHEIT ALS TECHNIK
Obwohl die Formel hic et nunc in der scholastischen Literatur ein wiederkehrendes Thema ist, hat sich die Beziehung der modernen Psychologie zum Hier und Jetzt nur allmählich entwickelt.
Die Psychoanalyse begann mit einer vergangenheitsorientierten Verfahrensweise. Freuds Entdeckung der freien Assoziation hatte ihren Ursprung in seinen Erfahrungen mit der Hypnose, und seine ersten Erkundungen der Technik waren eher ein Versuch, ohne Trancezustand auszukommen und dennoch dieselben Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit seines Patienten zu finden. Er stellte gewöhnlich dem Patienten eine Frage und bat ihn, den ersten Gedanken wiederzugeben, der ihm in dem Moment kam, während er seine Stirn berührte. Mit zunehmender Erfahrung fand er heraus, daß er die Berührung der Stirn auch weglassen konnte, ebenso wie die Frage, und statt dessen jede Äußerung als eine Assoziation zur vorangegangenen in dem spontanen Fluß der Gedanken, Erinnerungen und Phantasien ansehen konnte. Zu seiner Zeit war dies für ihn nicht mehr als das Rohmaterial für einen Deutungsversuch, wobei die kostbarsten Assoziationen diejenigen waren, die mit der Kindheit des Patienten zu tun hatten. Freud ging davon aus, daß der Patient sich nur von seiner eigenen Vergangenheit befreien kann, indem er in der Gegenwart für sie Verständnis findet.
Der erste Schritt hin zu einem Interesse an der Gegenwart in der Psychoanalyse war Freuds Entdeckung des Phänomens der Übertragung. Da die Gefühle des Patienten für den Analytiker als Abbild seiner früheren Gefühle für seine Eltern oder Geschwister gesehen wurden, gewannen sie sofort an Bedeutung für das Verständnis der noch immer im Mittelpunkt stehenden Vergangenheit des Patienten.
Anfangs hielt sich die Analyse der Übertragung noch immer an die retrospektive Deutung der Vergangenheit, aber wir können davon ausgehen, daß sie sich immer mehr in Richtung eines verselbständigten Interesses bewegte, denn der nächste Schritt war die allmähliche Verlagerung der Betonung von der Vergangenheit in die Gegenwart, nicht nur als das untersuchte Medium oder Material, sondern als das eigentliche Ziel des Verständnisses. Daher wurde aus dem Verständnis der Gegenwart zum Zweck der Vergangenheitsbewältigung die heutige Deutung der Kindheitserlebnisse als Mittel zum Verständnis der Gegenwartsdynamik.
Die Entwicklungslinien, die zu dieser Verschiebung führten, sind zahlreich. Melanie Klein beispielsweise pflegt eine interpretative Sprache, die auf Annahmen über frühe Kindheitserfahrungen beruht, wenngleich die Tendenz ihrer Schule in der eigentlichen Praxis fast ausschließlich auf das Verständnis der „Übertragungsbeziehung“ abzielt. Ein ähnlicher Schwerpunkt auf die Gegenwart wurde von Bion auf die Gruppensituation angewendet.
Wilhelm Reichs Schwerpunktverlagerung auf die Gegenwart war das Ergebnis seiner Interessenverlagerung von Worten zu Taten. In seiner Charakteranalyse ist der Schwerpunkt auf das Verständnis der Ausdrucksform des Patienten gelegt, statt auf das, was er sagt. Dies geschieht am besten dadurch, daß man sein Verhalten in der jeweiligen Situation beobachtet.
Ein dritter Beitrag für die Evaluation der Gegenwart im therapeutischen Prozeß geht auf Karen Horney zurück und berührt die eigentliche Grundlage der Interpretation von Neurosen. Aus ihrer Sicht werden Störungen, die in der Vergangenheit ihren Ursprung haben, in der Gegenwart durch eine falsche Identität aufrechterhalten. Der Neurotiker hat irgendwann im Austausch für ein glänzendes Selbstbild seine Seele an den Teufel verkauft und zieht es weiterhin vor, diesen Pakt zu respektieren. Wenn ein Mensch versteht, wie er sein wahres Selbst in diesem Augenblick verbirgt, kann er frei werden.
Die wachsende Betonung der Orientierung auf die Gegenwart in der zeitgenössischen Psychotherapie kann auf den Einfluß zweier Quellen außerhalb der Psychoanalyse zurückgeführt werden: Encounter-Gruppen und östliche spirituelle Disziplinen. Über letztere sind mittlerweile auch im Westen Informationen weit verbreitet, und die Praxis von einigen nimmt zu. Besonders Zen kann als Einfluß genannt werden, der zur Entwicklung der Gestalttherapie in ihrer gegenwärtigen Form beigetragen hat.
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