Inhaltsverzeichnis
Prolog
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Erster Zwischenakt
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Zweiter Zwischenakt
Ein gläserner Käfig
Dritter Zwischenakt
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Vierter Zwischenakt
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Epilog
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72
73
Anmerkung
Erläuterungen
Luiz Antonio de Assis Brasil
Roman
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von
Kurt Scharf
Originalausgabe
Figura na sombra
L&PM Editores
Porto Alegre - RS - Brasilien
1. Auflage 2012
CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek
© 2021 by Sujet Verlag
Gestalt im Schatten
Luiz Antonio de Assis Brasil
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Kurt Scharf
ISBN: 978-3-96202-617-2
Korrektorat: Stella Dietrich, Myriam Sauter
Umschlaggestaltung: Tarlan Mirshekari
Layout: Lúcia Rodrigues Maio
Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen
Printed in Europe
1. Auflage Frühjahr 2021
www.sujet-verlag.de
Für Valesca.
Immer.
What are the major men? All men are brave.
All men endure. The great captain is the choice
Of chance. Finally, the most solemn burial
Is a paisant chronicle.
Wallace Stevens
Paisant Chronicle
Estanzia Santa Ana, Corrientes, Argentienien,1858
Es ist ein sonniger Nachmittag auf der Pampa. Der Himmel ist wolkenlos. Die Luft ist leicht und schimmert bläulich. Am Vormittag und an den sechs Tagen davor hat es in Strömen geregnet. Düstere Nebelschwaden zogen durch die Luft. Der Bach Las Ánimas war über die Ufer getreten und hatte sich mit dem nahen Fluss, dem Uruguay, vereinigt. Die Felder waren zu Seen geworden, die Mais- und Maniokpflanzungen waren vernichtet. Der Mateplantage hatte es nichts ausgemacht.
Jetzt sind alle glücklich, dass wieder gutes Wetter herrscht.
Die beiden Männer unterhalten sich im größten der drei mit Pampagras gedeckten Gebäude, die einen eigenartigen Komplex bilden. Von oben gesehen hätte er die Form eines K’s.
Sie befinden sich im größten Raum dieses Gebäudes. Die Mauern aus Lehm werden von Baumstämmen gestützt, die denselben Zweck erfüllen wie die Dienste gotischer Dome. Die Risse in den Wänden, eine Folge jahrelanger Vernachlässigung, lassen schräg einfallende Lichtstrahlen hindurch, die allem dort innen einen sonntäglich-feierlichen Anstrich verleihen.
Don Amado Bonpland, der bejahrte Eigentümer, nennt diesen Raum seine salle à manger. Er dient jedoch nicht nur zum Essen, sondern auch zum Lesen, für ärztliche Sprechstunden und zum Empfang von Besuchen. Er ist für die Augenblicke da, in denen die Leute sich dessen bewusst werden, dass sie nicht nur einen Körper, sondern auch einen Geist haben.
Aber alles ist dort Vergangenheit.
In der Pampa sind alle Räume eines Hauses Vergangenheit.
In der Pampa ist alles Vergangenheit.
Don Amado Bonpland und sein junger Besucher setzen sich auf rustikale Stühle an den Tisch, der nichts anderes ist als eine alte hölzerne Tür, die auf zwei Fässern ruht. Darauf liegt eine im Laufe der Zeit verblichene Ledertasche.
Der kleine, tragbare Medikamentenschrank ist nicht zu übersehen. Darin stehen bunte Fläschchen. Einige von ihnen sind ausgetrocknet, sie haben keine Korken. Auf den Etiketten steht, geschrieben in einer Zeit, als die Hand von Don Amado Bonpland noch nicht zitterte: Romarin, Aspérule, Calamenthe, Céleri und anderes für die mangelhafte Sehkraft des Besuchers Unleserliches.
Der unzureichenden Standfestigkeit der Wände ist es geschuldet, dass man das Bücherregal mit fünf Brettern nicht vor Augen hat. Es liegt auf dem Boden und enthält etwa zweihundert Bände. Auf dreien von ihnen steht in Goldschrift auf dem Buchrücken: „Alexander von Humboldt - Kosmos“. Es gibt eine Reihe weiterer, in grünes Leder gebundener Bücher, von denen aber einige Nummern fehlen: „Alexander von Humboldt & Aimé Bonpland - Voyage aux Régions Équinoxiales du Nouveau Continent“.
Der Besucher, Robert Christian Avé-Lallemant, besitzt diese Bände bereits alle, bis auf einen, und jetzt entziffert er dessen Titel: „Description des Plantes Rares Cultivées à Malmaison et à Navarre – Aimé Bonpland“. Auf den Büchern liegt eine dünne Schicht dunkler Staub wie auf allem anderen, was sich dort befindet.
An der Türschwelle steht eine Vase mit fleischfarbenen Rosen. Ihr Stängel ist knotig, unförmig und verkrümmt, so oft ist er immer wieder beschnitten worden. Avé-Lallemant lächelt; er mag Rosen. Er züchtet sie, sogar in seinem angemieteten Haus in Rio de Janeiro.
Don Amado Bonpland bietet Avé-Lallemant einen Mate an, der ihn jedoch sehr höflich ablehnt.
Don Amado gibt nicht nach:
„Dr. Avé-Lallemant, das ist das Gewächs, das ich Ilex humboldtiana genannt habe, damals, als ich den Pflanzen noch Namen gegeben habe.“
Das Wort humboldtiana lässt Avé-Lallemant stutzen. Aber obwohl es den Namen seines lieben Freundes in Erinnerung ruft, lehnt Avé-Lallemant ab. Dieser grüne Tee in einer schmutzigen Kürbisschale ekelt ihn an. Es ekelt ihn, an demselben Metallröhrchen zu saugen, das schon in anderen Mündern gesteckt hat. Es ist der typische Abscheu, den die Fremden empfinden, und er spürt ihn, seit er in die Pampa gekommen ist.
„Aber“, fährt Don Amado Bonpland fort, „meine Kollegen, die Botaniker, haben diesen Namen nie akzeptiert. Sie benutzen andere.“
Avé-Lallemant ist damit beschäftigt, sich das Aussehen dieses Alten einzuprägen. Ein sinnloses Unterfangen; nur in der Jugend mit ihren Hoffnungen und Möglichkeiten unterscheiden sich die Leute.
Ungewöhnlich ist indessen die Geschichte von Don Amado Bonpland.
Eine Koryphäe der botanischen Wissenschaft und Doctor honoris causa von verschiedenen europäischen Universitäten ist Don Amado Bonpland, wie ein Naturforscher aus Ansbach schrieb, der sich an Kaspar Hauser erinnerte, ein neue Aenigma sui temporis, ein Rätsel seiner Zeit.
Die Akademien schicken ihm in Röhren aus Weißblech eingerollte Diplome. Er nimmt diese Ehrungen dankbar und bescheiden an. Er bewahrt sie an Stellen auf, die er bald zu vergessen pflegt. Eine Ausnahme macht er mit zwei Sternen der Légion d’Honneur, er hat sie an das Revers seiner abgetragenen Jacke aus grobem Kattun geheftet. Es ist eine ironische Geste von Don Amado Bonpland; gefangen in der Falle ihrer ausufernden Bürokratie, haben die französischen Behörden ihm zweimal dieselbe Auszeichnung verliehen. Das hatte man Avé-Lallemant schon vorher erzählt, und er amüsierte sich, als er sie nun an Don Amado Bonplands Brust sah.
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