Der Vater nahm seinen Becher Wein und nahm neben ihm Platz. Er betrachtete das zusammengesetzte Kohlblatt. „Schön“, fand er und ließ seine Gedanken schweifen.
Aimé stellte eine Sammlung der Pflanzen zusammen, die er in der Umgebung von La Rochelle und an den Ufern des Flusses fand. Das war damals Mode, und man nannte es „botanisieren“.
Viele Leute, auch die gesetztesten, botanisierten. Es botanisierten Väter, Atheisten, Damen der besten Gesellschaft, Griechischlehrer, ja sogar Dienstmädchen.
Die Natur hatte viel zu bieten, und sie war eine Unbekannte.
Als Kind verschwand Aimé einmal einen ganzen Sonntag. An den Ufern des Flusses schob er die Zweige der Weiden beiseite und sammelte, den Blick zu Boden gerichtet, seine Pflanzen. Er hob den Kopf; die ersten Nebel dieser Jahreszeit hüllten die alte Steinbrücke ein, sie erfüllten seine Seele mit einem Gefühl, das er aus den Gedichtbüchern der häuslichen Bibliothek kannte. Der Vater verbot ihm keine Lektüre, er gestattete ihm sogar, die in den angesehenen Kreisen verteufelten Philosophen zu lesen.
Aimé ging wieder in sein Zimmer und breitete die Pflanzen auf seinem Arbeitstisch aus. Er hatte die Species Plantarum aufgeschlagen und versuchte, sie zu bestimmen. Er verbrachte schlaflose Nächte, wenn es ihm nicht gelang, eine besondere Pflanze in dem Buch zu finden. Später sollte es einige geben, die seinen Namen trugen. Sie gehören zur Art Bonplandia aus der Familie der Polemoniacaeae.
In seiner Jugendzeit begann er sich für den menschlichen Körper zu interessieren, für die Krankheiten und infolge seiner Lektüre der Philosophen für die Revolution.
Er las den Émile von Rousseau, den Zadig von Voltaire, und er las Descartes.
Er las Pascal; jetzt war es soweit, dass etwas in seinem Leben geschehen musste.
Sein Bruder fragte ihn, wann er gedenke, sich etwas Ernsthaftem zuzuwenden, und Aimé antwortete ihm, derzeit brauche er diese Dinge. Später werde er Medizin studieren. Sei das denn nicht das, was man von ihm erwarte?
Um ihn von diesen heiklen Themen abzulenken, begann seine Schwester, ihn das Klavierspiel zu lehren. Bereits nach wenigen Monaten spielten sie vierhändig das Andante der Sonata facile in C-Dur von Mozart. Olive hatte im Haus nicht viel zu tun. Sie wartete darauf zu heiraten.
Aimé Bonpland lernte schnell und ohne Hilfe, einige leichtere Werke von Haydn zu spielen. Daraufhin entschloss sich sein Vater, ihm einen Klavierlehrer zu bezahlen, der sich aber sofort den Mantel wieder anzog und seine Tasche mit den Noten an sich nahm.
„Der Junge hat einen solchen Hang zum Herumklimpern, dass er lieber etwas anderes lernen sollte.“
Er fühlte sich seinem Vater gegenüber schuldig. Er konnte ihn kaum ansehen, ohne sich vorzustellen, welches Missvergnügen dieser deswegen empfand.
Deshalb lernte er so gut Latein wie ein Abt. Er pflegte zu sagen, er tue das, um die Species Plantarum zu lesen, auch wenn das Latein vor allem nützlich dafür war, Anatomie zu studieren.
Im passenden Alter las er Ars Amandi von Ovid. Der Vater sah ihn mit dem Buch und lächelte, bevor er die Kerze ausblies und schlafen ging.
Botanisieren setzt einen genauen Blick inmitten der verwirrenden Vielfalt der Pflanzen voraus. Es ist der Blick des Wissenden: Dieser Stängel, diese Blätter, diese Blüte haben in der äußersten Ökonomie der Natur etwas zu bedeuten.
Wer botanisiert, behält Tausende von Zeichnungen und Beschreibungen; er weiß, welches Exemplar einer Pflanze man pflücken, zwischen Papierblättern pressen und, nachdem sie getrocknet ist, mit Bändchen auf Bögen von grober Pappe befestigen muss, um sie dann zu bestimmen und den Namen des Botanisierenden darunter zu setzen.
Durch das Zusammenfügen der Bögen mit den gesammelten Musterbeispielen entsteht ein Herbarium. Dieses setzt man zwischen zwei Buchdeckel aus hartem, mit Taft überzogenem Leder und bindet die Ränder mit Kordeln aus Flockseide zusammen.
Ein solches Herbarium misst in der Länge eine Elle.
Wegen des durch ihre Seelenlosigkeit und Unvollständigkeit irritierenden Charakters haben diese Herbarien in den naturwissenschaftlichen Sammlungen etwas Bedrückendes.
Bis Mitte des 18. Jahrhunderts waren Pflanzen ein Kollektiv, das keine Beachtung verdiente.
Im 19. Jahrhundert riss der Botanisierer eine Pflanze aus dem Boden und trennte sie aus dem Zusammenhang ihrer Artgenossen.
Die Rechtfertigungen für das Botanisieren können folgende sein: den Pflanzen ihre Essenzen zu entnehmen, sie innerhalb des Pflanzenreichs zu klassifizieren, sie in einem Museum auszustellen, damit die Besucher sie betrachten können.
In einer Vase würden sie jedoch ein paar Tage länger leben, und sie wären anmutiger.
In Porzellanvasen aus Augarten oder Vista Alegre bilden die Blumen ein holländisches Gemälde. Die Leute sagen: „Was für ein schönes holländisches Bild diese Blumen in einer Porzellanvase doch abgeben!“
Aber das Schicksal der botanisierten Pflanzen ist nun einmal die Wissenschaft und das ewige Dunkel.
Er interessierte sich für das Unscheinbare:
Für Insekten mit lederartigem Panzer und gezackten Beinen, die seinen Schulkameraden Angst einflößten;
Für Schmetterlinge mit schillernden Flügeln, die zwischen Grün, Blau und Violett changierten. Auch für die Gelben mit runden Flecken – wilde, auf ihre zarten Flügel gezeichnete Augen.
Auch für winzige versteinerte Muscheln, die er an Stellen entdeckte, die alle anderen übersahen. Sie waren spiralförmig wie die großen ihrer Art und erinnerten an urzeitliche Katastrophen auf der Erde. Blaue, grüne und leuchtend rote Kieselsteine. Er zeigte zur Enttäuschung der anderen, dass es keine Edelsteine von großem Wert waren. Aber für einen Wissenschaftler haben alle Steine ihren Wert.
Sie fragten ihn, warum er trotz allem die Pflanzen vorzog. „Sie glühen in der brennenden Leidenschaft ihrer leuchtenden Farben“, antwortete er, „und sind stets auf der Schwelle zum Tode.“
Mit siebzehn Jahren studierte Aimé Bonpland in Paris Medizin. Die Revolution nahm unterdessen ihren Gang.
Aimé Bonpland war ein Jahr, nachdem man Ludwig XVI und seine Familie nach ihrer Festnahme in Varennes in die Stadt zurückgebracht hatte, dorthin gekommen.
Sie durchlebten einen heißen Sommer.
Eine Woche später nahm die Hitze noch mehr zu. Der Sommer fühlte sich an wie eine Feuerwand, gegen die man stieß, wenn man die Tür öffnete. Die Kartoffeln keimten, noch bevor sie in Les Halles zum Verkauf angeboten wurden. Und es lag allzu viel Staub in der Luft.
Als erstes suchte er, nachdem er sein Gepäck im Hotel Boston gelassen hatte, den lieblichen Jardin du Roi auf, aus dem später der demokratische Jardin des Plantes werden sollte. Das Museum für Naturgeschichte, das der Konvent geschaffen hatte, enthielt Herbarien, die Reisende aus allen Teilen der Welt dorthin geschickt hatten.
In den nächsten Tagen erhielt er die Erlaubnis, die Herbarien von Lamarck durchzublättern. Sie verströmten einen Geruch von Ernsthaftigkeit. Aimé Bonpland notierte sich, wie Lamarck die Musterpflanzen auf den Pappbögen befestigt hatte, und seine Art der Katalogisierung. Er bemerkte seine gerundete, fast kindliche Schrift. Durch Lamarcks wissenschaftliche Betätigung waren diese Pflanzen verewigt worden. Er lernte auch Lamarcks Sammlung von Insekten und Fossilien kennen. Er begann ihn als einen Ahnherrn der Naturwissenschaften zu bewundern. Durch die Erklärungen eines Kommilitonen erfuhr er von Lamarcks Vorstellung von der ständigen Vervollkommnung der Lebewesen in einer Entwicklung hin zu etwas Edlerem. Der Mensch stand an der Spitze dieser biologischen Pyramide. So war es. Darwin kam mit seiner treffenden, auf das Edle verzichtenden Theorie erst später.
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