Peter Gold schreibt in seinem Buch über die heilige Weisheit der Navajo und der Tibeter: »Der Heilige Wind ist eine glitzernde, pulsierende, atmende Verschmelzung aller belebenden Energien eines lebendigen Kosmos. Er ist die Kraft hinter dem Universalen Geist, die alle Elemente und Phänomene des Kosmos durchdringt.« Zusammen erzeugen der Heilige Wind und der Universale Geist einen Seinszustand, der ho’zho genannt wird. Dieses Wort wird meist mit »Schönheit« übersetzt, bedeutet aber auch Harmonie, Glück, Gesundheit, Ausgewogenheit.
Der Unterschied zwischen den Heiligen Leuten und uns besteht darin, daß die Heiligen Leute gänzlich in diesem Ho’zho-Zustand leben, sie sind völlig eins mit den Kräften und Rhythmen und der ganzen Ordnung des Kosmos. Auch wir können bei aller Unvollkommenheit den Ho’zho-Zustand erreichen, weil wir aus demselben Stoff sind wie die Heiligen Leute. Wir sind Emanationen der alles durchdringenden Einheit und Kraft des Ho’zho.
Für einen traditionellen Navajo kommt es vor allem anderen darauf an, gemäß dem Ho’zho-Prinzip von Ausgewogenheit, Frieden und Schönheit zu leben. Das ist das Ziel des alltäglichen Handelns und der Gebete. So sagt der Navajo-Künstler Jimmy Toddy: »Jedes Gebet fängst du an mit ›Schönheit vor mir, Schönheit um mich her, Schönheit auf meinem Weg‹. Ho’zho – so geht das Gebet. Jedes Gebet sprichst du damit – Schönheit, Schönheit.«
• Die Shinto-Religion Japans ist der Weg der kami, meist mit »Götter« übersetzt. Aber Shinto ist eigentlich eine Lebensweise, wie der japanische Shinto-Experte Sokyo Ono sagt, »ein Amalgam aus Einstellungen, Ideen und Vorgehensweisen, die im Laufe von mindestens zwei Jahrtausenden tiefe Wurzeln im japanischen Volk geschlagen haben«. Kami ist für ihn ein Ehrentitel für edle, heilige Geister. Es schwingt etwas von Achtung, Liebe und Ehrfurcht darin mit. »Alle Wesen haben solch einen Geist«, sagt er, »und das heißt, daß man in gewissem Sinne alle Wesen als Kami oder potentielle Kami ansehen kann.«
In der Shinto-Welt gibt es wie bei den Navajo keinen allmächtigen Gott als Schöpfer von allem und als Herrscher über alles. Die Welt ist selbsterschaffen, und zu dieser Selbstschöpfung kommt es, weil die Kami – indem jeder seine besondere Aufgabe erfüllt – harmonisch zusammenwirken. Die Kami sind gegenwärtig in Wachstum, Fruchtbarkeit und Produktion, in Naturerscheinungen wie Wind und Donner, in der Sonne, in Bergen, Flüssen, Bäumen und Felsen und in manchen Tieren. Kami sind die Hüter des Landes und die Herz-Energien der Berufe und Fertigkeiten. Sie sind die Geister der Ahnen, der Nationalhelden, der Menschen, die Großes vollbracht haben oder von außergewöhnlicher Tugend sind, und all jener Menschen, die etwas für Zivilisation und Kultur und das Wohl der Menschen getan haben.
Wie erfahren die Japaner ihre Kami? Sokyo Ono schreibt: »Die Japaner selbst haben keine klaren Vorstellungen, was die Kami angeht. Sie wissen auf einer tiefen Ebene ihres Bewußtseins intuitiv um die Kami und kommunizieren direkt mit ihnen, ohne sich eine begriffliche oder theologische Vorstellung von ihnen gemacht zu haben. Das ist seiner Natur nach und grundsätzlich vage und daher nicht explizit und klar darzulegen.«
Dazu paßt eine Geschichte, die der Mythologe Joseph Campbell erzählt. Er nahm an einer Konferenz über Religion in Japan teil und hörte während dieser Konferenz, wie ein Sozialphilosoph aus New York zu einem Shinto-Priester sagte: »Wir haben jetzt eine ganze Menge Zeremonien erlebt und etliche Kami-Schreine besucht, aber Ihre Ideologie, Ihre Theologie, verstehe ich immer noch nicht.« Der Japaner hielt wie gedankenversunken inne, wiegte dann bedächtig den Kopf und sagte: »Ich glaube, wir haben keine Ideologie, wir haben keine Theologie – wir tanzen.«
In Japan findet man auf dem Land allenthalben kleine Kami- Schreine, als deren Standorte stets Kraftpunkte ausgewählt werden. Jeder Garten, jedes Haus hat mindestens einen Schrein, der den Kraftpunkt markiert. Solch ein Schrein muß nicht aufwendig sein; ein Seil oder eine Gruppe von Steinen, die ein Stück Boden abgrenzen, können genügen. Es kann auch ein kleines hölzernes Häuschen sein mit einer Öffnung, in die man frische Blumen stellen kann.
Die meisten alten Japaner achten die Kami noch, und zwar unabhängig davon, ob sie Buddhisten oder Christen oder Shintoisten sind oder gar keiner Religion angehören. Sie spüren die Gegenwart der Kami und wissen, daß man mit ihnen kommunizieren muß, um den richtigen Fluß der Energie in ihrer Welt zu erhalten. Selbst beim Bau eines Bankgebäudes wird man vor dem Beginn der Arbeiten die für diesen Anlaß vorgesehenen Zeremonien ausführen, um den Kami dieses Ortes die gebührende Achtung zu erweisen. Im Verlauf der Bauarbeiten folgen weitere Zeremonien, die die Energie und Kraft der Kami auf diese Stelle lenken sollen.
Die vorbuddhistischen Traditionen Tibets kannten Energiewesen, die drala genannt wurden und offenbar den japanischen Kami, den Heiligen Leuten der Navajo und den heidnischen Gottheiten und Feen des mittelalterlichen Europa sehr ähnlich sind. Drala bedeutet wörtlich »über dem Feind«. Trungpa Rinpoche schreibt in einem seiner Bücher dazu: »Drala ist die unbedingte Weisheit und Macht der Welt, die jenseits aller Dualismen ist; Drala steht über jedem Feind oder Konflikt.« In diesem Sinne meint Feind jede Form von Aggression oder Territorialdenken – alles, was unsere Welt in getrennte, einander bekämpfende Parteien aufteilt. Die Drala-Energien schaffen Harmonie zwischen den Teilen unserer Welt und heilen ihre Zersplitterung. Ich werde den Begriff »Drala« häufiger verwenden, weil er für uns neu und daher noch nicht mit Vorstellungen wie »Gottheiten«, »Feen«, »Engel« und so weiter befrachtet ist.
Chögyam Trungpa Rinpoche glaubte, daß die westliche Welt zwar im Laufe der Zeit zu großem Wohlstand gelangt war, daß aber ein Großteil der Vitalität des Landes durch industrielle Produktion, Ausbeutung der Bodenschätze und so weiter verlorengegangen ist. Und deshalb haben sich die Dralas zurückgezogen. Damit diese Vitalität wiederhergestellt und eine ungesunde Situation geheilt werden kann, lehrte er im Westen den Shambhala-Pfad der heiligen Kriegerschaft, der den Menschen ermöglichen sollte, ihre ursprüngliche Herzensweisheit wieder mit der Energie und Kraft der Dralas zu verbinden. Diese Praktiken, sagte er, können Licht und Würde in die stoffliche Welt und unseren Körper zurückbringen, Überzeugungskraft in unsere Rede und schließlich Mut und die Kraft des Herzens in unseren Geist. Er betonte auch, daß wir tatsächlich Kontakt zu den Dralas aufnehmen können, daß sie nicht bloß eine nette, tröstliche Vorstellung sind. Aber zu diesem Kontakt kommt es nur, wenn wir praktisch daran arbeiten und nicht bloß darüber reden.
• In all diesen Lebensformen – im mittelalterlichen Europa, bei den Navajo, in Japan und Tibet – erleben die Menschen ihre Welt offenbar in vielen Dimensionen. Hier der Bereich der materiellen Wirklichkeit, dort die Regionen der Götter, Geister, Ahnen und Engel. Das sind einfach verschiedene Arten, dieselbe Welt wahrzunehmen.
So berichtet Carolly Erickson beispielsweise von einem Manuskript aus dem dreizehnten Jahrhundert, in dem von drei Mönchen erzählt wird, die zusammen den Ort finden wollten, »an dem Himmel und Erde sich vereinigen«. In zutreffenden geographischen Einzelheiten wird berichtet, wie sie den Tigris überqueren, Persien (den heutigen Iran) durchwandern und schließlich die weiten Ebenen Asiens erreichen. Unterwegs begegnet ihnen allerlei Merkwürdiges: ein Volk von kaum zwei Fuß großen Menschen, eine öde Berggegend voller Drachen, ein von Elefanten bevölkertes Gebirge, ein Ort, an dem Sünder furchtbare Qualen zu erdulden haben, und so weiter. Erickson schreibt:
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