Auch Ihr Geist ist von zahllosen vorausgegangenen Dingen abhängig. Denken Sie an die Lebensereignisse und an die Menschen, die Ihre Ansichten, Ihre Persönlichkeit und Ihre Emotionen geprägt haben. Stellen Sie sich vor, Sie wären bei der Geburt ausgetauscht und von armen Ladenbesitzern in Kenia oder einer reichen Ölfamilie in Texas großgezogen worden; wie anders würde Ihr Geist heute sein?
Das Leiden der Trennung
Da ein jeder von uns mit der Welt verbunden ist und in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zu ihr steht, werden unsere Versuche, separate und unabhängige Wesen zu sein, regelmäßig zum Scheitern gebracht, was schmerzhafte Signale der Störung und Bedrohung verursacht. Darüber hinaus führen unsere Anstrengungen selbst dann, wenn sie vorübergehend erfolgreich sind, zum Leiden. Wenn Sie die Welt als „überhaupt nicht ich“ sehen, ist sie potentiell unsicher, was Sie dazu veranlasst, sich vor ihr zu fürchten und sich ihrer zu erwehren. Sobald Sie sagen: „Ich bin dieser Körper, getrennt von der Welt“, werden die Schwächen Ihres Körpers zu Ihren eigenen. Wenn Sie meinen, dass er zu viel wiegt oder nicht richtig aussieht, leiden Sie. Wenn er durch Krankheit, Altern und Tod bedroht ist – wie es alle Körper sind –, leiden Sie.
Nicht so beständig
Ihr Körper, Ihr Gehirn und Ihr Geist enthalten eine Vielzahl an Systemen, die ein gesundes Gleichgewicht aufrechterhalten müssen. Das Problem aber ist, dass sich verändernde Bedingungen diese Systeme ständig durcheinanderbringen, was zu Signalen der Bedrohung, des Schmerzes und des Leids führt – mit einem Wort zum Leiden.
Wir sind sich dynamisch verändernde Systeme
Betrachten wir einmal ein einzelnes Neuron, eines, das den Neurotransmitter Serotonin freisetzt (siehe Abbildungen 3
und 4
). Dieses winzige Neuron ist gleichzeitig Teil des Nervensystems und selber ein komplexes System, das zahlreiche Subsysteme benötigt, die es in Gang halten. Wenn es feuert, schleudern Verzweigungen am Ende seines Axons eine Salve aus Molekülen in die Synapsen – die Verbindungen – hinein, die es mit anderen Neuronen bildet. Jede Verzweigung enthält etwa zweihundert Vesikel genannte kleine Bläschen, die mit dem Neurotransmitter Serotonin gefüllt sind (Robinson 2007). Jedes Mal, wenn das Neuron feuert, öffnen sich fünf bis zehn Vesikel. Da ein typisches Neuron rund zehnmal in der Sekunde feuert, werden die Serotoninvesikel einer jeden Verzweigung alle paar Sekunden geleert.
Folglich müssen geschäftige kleine molekulare Maschinen entweder neues Serotonin produzieren oder frei um das Neuron herumtreibendes Serotonin recyceln. Dann müssen sie Vesikel herstellen, sie mit Serotonin füllen und nahe an den Ort des Geschehens bringen, also an die Spitze einer jeden Verzweigung. Das sind viele Prozesse, die da im Gleichgewicht gehalten werden müssen, und vieles könnte dabei schiefgehen – und der Serotoninstoffwechsel ist nur eines der Tausende Systeme in Ihrem Körper.
Ein typisches Neuron
• Neuronen sind die Grundbausteine des Nervensystems; ihre Hauptfunktion besteht darin, über winzige, Synapsen genannte Spalte miteinander zu kommunizieren. Zwar gibt es viele verschiedene Arten von Neuronen, doch ist ihr grundlegender Aufbau immer ziemlich ähnlich.
• Vom Zellkörper gehen Dendriten genannte Verästelungen aus, die Neurotransmitter von anderen Neuronen empfangen. (Manche Neurone kommunizieren mittels elektrischer Impulse direkt miteinander.)
• Etwas vereinfacht ausgedrückt, bestimmt die Summe aller exzitatorischen und inhibitorischen Signale, die ein Neuron Millisekunde um Millisekunde empfängt, ob es feuern wird oder nicht.
• Wenn ein Neuron feuert, verläuft eine elektrische Welle entlang seines Axons, der Faser, die sich in Richtung der Neuronen erstreckt, zu denen es Signale sendet. Hierdurch werden Neurotransmitter in die Synapsen, die es mit empfangenden Neuronen bildet, ausgeschüttet und Letztere entweder daran gehemmt oder dazu angeregt, im Gegenzug ebenfalls zu feuern.
• Die Fortleitung der Nervensignale wird durch Myelin beschleunigt, eine fetthaltige Substanz, welche die Axone isoliert.
Abb. 03 Ein (vereinfachtes) Neuron
• Die graue Substanz in Ihrem Gehirn setzt sich zum größten Teil aus den Zellkörpern von Neuronen zusammen. Auch weiße Substanz ist vorhanden, diese besteht aus den Axonen und den Gliazellen; Gliazellen leisten wichtige Funktionen für den Stoffwechsel, indem sie beispielsweise Axone mit Myelin umhüllen und Neurotransmitter recyceln. Neuronale Zellkörper sind wie 100 Milliarden durch ihre axonalen „Kabel“ miteinander verbundene Ein- und Ausschalter in einem komplizierten Netzwerk in Ihrem Kopf.
Abb. 04 Eine Synapse (im Nebenbild vergrößert dargestellt)
Die Schwierigkeiten, ein Gleichgewicht zu bewahren
Damit Sie gesund bleiben, muss ein jedes System in Ihrem Körper und Geist zwei im Widerstreit zueinander stehende Bedürfnisse ausgleichen. Auf der einen Seite muss es bei laufenden Transaktionen mit seiner lokalen Umgebung für Input offen bleiben (Thompson 2007); geschlossene Systeme sind tote Systeme. Auf der anderen Seite muss jedes System auch eine grundlegende Stabilität bewahren, muss um einen guten Sollwert herum und innerhalb bestimmter Spannweiten zentriert bleiben – nicht zu heiß, nicht zu kalt. Beispielsweise müssen vom präfrontalen Kortex (PFC) geleistete Hemmung und vom limbischen System ausgehende Erregung sich gegenseitig ausgleichen: zu viel Hemmung, und Sie fühlen sich im Inneren taub, zu viel Erregung, und Sie fühlen sich überwältigt.
Signale der Bedrohung
Damit jedes Ihrer Systeme im Gleichgewicht bleibt, registrieren Sensoren seinen Zustand (wie das Thermometer in einem Thermostat) und senden Signale an Regulatoren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn das System den zulässigen Bereich verlässt (d. h. um den Ofen an- oder abzustellen). Der größte Teil dieser Regulation geschieht außerhalb Ihres Gewahrseins. Einige zu Korrekturmaßnahmen aufrufende Signale aber sind so wichtig, dass sie in das Bewusstsein aufsteigen. Wenn es Ihrem Körper beispielsweise zu kalt wird, fühlen Sie sich durchgekühlt; wenn es zu heiß wird, fühlen Sie sich wie in einem Backofen.
Diese bewusst erlebten Signale sind unangenehm, zum Teil deshalb, weil sie ein Gefühl der Bedrohung mit sich bringen – einen Aufruf, das Gleichgewicht wiederherzustellen, bevor die Dinge zu schnell zu weit den rutschigen Abhang hinuntergleiten. Der Aufruf kann sanft kommen, mit einem Gefühl des Unbehagens, oder lautstark, mit Alarm, sogar Panik. Ganz egal, wie er kommt, er mobilisiert Ihr Gehirn dazu, zu tun, was auch immer erforderlich ist, um Sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Diese Mobilisierung geht gewöhnlich mit Gefühlen des Verlangens einher; diese reichen von stillen Sehnsüchten bis hin zu einem verzweifelten Zwanggefühl. Interessanterweise ist das Wort für Verlangen im Pāli – der Sprache des frühen Buddhismus – tanhā, dessen Wurzel „Durst“ bedeutet. Das Wort „Durst“ drückt die Macht der Bedrohungssignale aus, negative körperliche Reaktionen zu verursachen, selbst dann, wenn die Signale nichts mit Leib und Leben zu tun haben, wie zum Beispiel die Möglichkeit, zurückgewiesen zu werden. Bedrohungssignale sind genau deshalb wirksam, weil sie unangenehm sind – weil sie Sie zum Leiden bringen, manchmal ein bisschen, manchmal sehr. Sie wollen, dass sie aufhören.
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