Dieses Kapitel untersucht das Leiden im Lichte der Evolution, um seine Ursprünge in unserem Gehirn zu erkennen. Wenn Sie verstehen, warum Sie sich nervös, verärgert, bedrängt, getrieben, traurig oder unzulänglich fühlen, haben diese Gefühle weniger Macht über Sie. Dies allein kann schon Erleichterung bringen. Ihr diesbezügliches Verständnis wird Ihnen auch dabei helfen, besseren Gebrauch von den „Rezepten“ im weiteren Teil dieses Buches zu machen.
Das sich entwickelnde Gehirn
• Das Leben begann vor rund 3,5 Milliarden Jahren. Mehrzellige Wesen tauchten erstmals vor etwa 650 Millionen Jahren auf. (Denken Sie, wenn Sie sich erkälten, daran, dass Mikroben einen Vorsprung von beinah drei Milliarden Jahren haben!) Als vor etwa 600 Millionen Jahren die allererste Qualle auftauchte, waren Tiere mittlerweile so komplex geworden, dass ihre sensorischen und motorischen Systeme miteinander kommunizieren mussten; so erklären sich die Anfänge des Nervengewebes. Während die Tiere sich entwickelten, entwickelten sich auch ihre Nervensysteme, die langsam eine zentrale Leitstelle in Form eines Gehirns hervorbrachten.
• Die Evolution baut auf bereits vorhandenen Fähigkeiten auf. Die Weiterentwicklung des Lebens lässt sich in Ihrem eigenen Gehirn sehen: in Form dessen, was Paul MacLean (1990) als die reptilische, paläo-mammmalische und neo-mammmalische Entwicklungsstufe bezeichnete (siehe Abbildung 2
; alle Abbildungen sind ein wenig ungenau und dienen lediglich der Veranschaulichung).
• Relativ neues, komplexes, konzeptualisierendes, langsames und motivational diffuses kortikales Gewebe sitzt auf subkortikalen Strukturen und Strukturen des Hirnstamms, die uralt, einfach, konkret, schnell und motivational stark sind. (Die subkortikale Region liegt in der Mitte Ihres Gehirns, unter dem Kortex und auf dem Hirnstamm; der Hirnstamm korrespondiert ungefähr mit dem „reptilischen Gehirn“, das in Abbildung 2
zu sehen ist.) Während Sie durch den Tag gehen, sitzt in Ihrem Kopf eine Art Eidechsen-Eichhörnchen-Affen-Gehirn, das in einem von unten nach oben verlaufenden Prozess Ihre Reaktionen formt.
• Trotzdem hat der moderne Kortex großen Einfluss auf den Rest des Gehirns und ist durch den Druck der Evolution dahin gehend geprägt worden, dass er beim Menschen die sich ständig verbessernden Fähigkeiten entwickelt hat, Kinder großzuziehen, sich zu binden, zu kommunizieren, zu kooperieren und zu lieben (Dunbar und Shultz 2007).
• Der Kortex ist in zwei „Hemisphären“ unterteilt, die durch den Balken miteinander verbunden sind. Im Verlauf unserer Evolution konzentrierte sich die linke Hemisphäre (bei den meisten Menschen) allmählich auf sequenzielle und sprachliche Verarbeitung, während sich die rechte Hemisphäre auf holistische und visuell-räumliche Verarbeitung spezialisierte; selbstverständlich arbeiten die beiden Hälften Ihres Gehirns eng zusammen. Viele neuronale Strukturen werden dupliziert, so dass es in jeder Hemisphäre eine gibt; nichtsdestoweniger ist es üblich, von einer Struktur im Singular zu sprechen (z. B. der Hippocampus).
Abb. 02 Das sich entwickelnde Gehirn
Drei Überlebensstrategien
Über Hunderte von Millionen von Jahren der Evolution hinweg entwickelten unsere Vorfahren drei grundlegende Überlebensstrategien:
• das Schaffen von Trennungen – um Grenzen zwischen sich selbst und der Welt sowie zwischen unterschiedlichen Geisteszuständen zu bilden
• das Bewahren von Stabilität – um körperliche und geistige Systeme in einem gesunden Gleichgewicht zu halten
• das Sichnähern an Chancen und das Meiden von Bedrohungen – um Dinge zu bekommen, die Nachwuchs begünstigen, und solchen, die es nicht tun, zu entkommen oder standzuhalten
Diese Strategien sind für das Überleben schon immer außerordentlich effektiv gewesen. Aber Mutter Natur ist es gleich, wie sie sich anfühlen. Um Tiere (einschließlich Menschen) dazu zu motivieren, diese Strategien zu befolgen und ihre Gene weiterzugeben, entwickelten sich neuronale Netzwerke, die unter bestimmten Bedingungen Schmerz und Leid schaffen: wenn Trennungen sich auflösen, die Stabilität ins Wanken gerät, Chancen enttäuschen und Bedrohungen auftauchen. Unglücklicherweise kommt es ständig zu diesen Bedingungen, weil:
• alles miteinander verbunden ist
• alles sich unaufhörlich verändert
• Chancen regelmäßig unerfüllt bleiben oder ihren Glanz verlieren und viele Bedrohungen unausweichlich sind (z. B. Altern und Tod)
Sehen wir uns an, wie all dies Sie zum Leiden bringt.
Nicht so separat
Die Parietallappen (Scheitellappen) des Gehirns liegen im oberen hinteren Teil des Kopfes (ein „Lappen“ ist eine rundliche Wölbung des Kortex). Bei den meisten Menschen stellt der linke Lappen die Wahrnehmung her, dass der Körper von der Welt getrennt ist, und gibt der rechte Lappen an, wo sich der Körper im Vergleich zu Bestandteilen seiner Umgebung befindet. Das Ergebnis ist eine automatische Grundannahme dieser Art: Ich bin ein separates und unabhängiges Wesen. Ist dies auch in mancherlei Hinsicht wahr, ist es doch in vielerlei wichtiger Hinsicht nicht wahr.
Nicht so abgegrenzt
Um zu leben, muss ein Organismus metabolisieren: Er muss Stoffe und Energie mit seiner Umgebung austauschen. Folglich werden im Laufe eines Jahres viele der Atome in Ihrem Körper durch neue ersetzt. Die Energie, die Sie aufwenden, um einen Schluck Wasser zu trinken, stammt von Sonnenschein, der sich durch die Nahrungskette zu Ihnen hocharbeitet – in gewissem Sinne hebt Licht die Tasse an Ihre Lippen. Die scheinbare Mauer zwischen Ihrem Körper und der Welt ähnelt eher einem Lattenzaun.
Und die zwischen Ihrem Geist und der Welt ist wie eine auf den Bürgersteig gemalte Linie. Vom Augenblick der Geburt an gelangen Sprache und Kultur in Ihren Geist und gestalten ihn (Han und Northoff 2008). Empathie und Liebe sorgen von Natur aus dafür, dass Sie sich auf andere Menschen einstimmen, so dass Ihr Geist mit dem ihrigen mitschwingt (Siegel 2007). Diese Ströme geistiger Aktivität fließen in beide Richtungen, da Sie auch andere beeinflussen.
In Ihrem Geist gibt es fast überhaupt keine Grenzen. Seine ganzen Inhalte strömen ineinander; Empfindungen werden zu Gedanken, Gefühlen, Begierden, Handlungen und noch mehr Empfindungen. Dieser Bewusstseinsstrom korreliert mit einer Kaskade an flüchtigen neuronalen Verbindungen, wobei jede Verbindung innerhalb von häufig weniger als einer Sekunde in der nächsten verschwindet (Dehaene, Sergent und Changeux 2003; Thompson und Varela 2001).
Nicht so unabhängig
Ich bin auf der Welt, weil ein serbischer Nationalist Erzherzog Ferdinand ermordet und damit den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat – was wiederum zu der zufälligen Begegnung meiner Eltern auf einem Tanzabend der Armee im Jahr 1944 führte. Natürlich gibt es zehntausend Gründe dafür, warum irgendjemand heute auf der Welt ist. Wie weit wollen wir zurückgehen? Mein Sohn – der mit seiner Nabelschnur um den Hals geboren wurde – ist wegen medizinischer Techniken, die über Hunderte von Jahren entwickelt wurden, auf der Welt.
Oder wir könnten ganz weit zurückgehen: Die meisten Atome in Ihrem Körper – einschließlich des Sauerstoffs in Ihren Lungen und des Eisens in Ihrem Blut – wurden im Inneren eines Sterns geboren. Im frühen Universum war Wasserstoff so ziemlich das einzige Element. Sterne sind riesige Fusionsreaktoren, die Wasserstoffatome miteinander verschmelzen lassen, schwerere Elemente erzeugen und dabei viel Energie freisetzen. Diejenigen, die zu Novä wurden, spien ihre Inhalte weit und breit umher. Bis zu der Zeit, als unser Sonnensystem sich zu bilden begann – ungefähr neun Milliarden Jahre nach dem Beginn des Universums –, existierten genügend viele große Atome, um unseren Planeten zu bilden, um die Hände zu bilden, die dieses Buch halten, und das Gehirn, das diese Worte versteht. Wirklich – Sie sind hier, weil viele Sterne explodiert sind. Ihr Körper besteht aus Sternenstaub.
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