Mit anderen Worten: Aus dem Bericht des heiligen Hieronymus erfahren wir viel Aufschlussreiches über den heiligen Hieronymus, aber über die Wüstenväter selber so gut wie nichts.
Schon hatten die Römerinnen und die Römer jede Hoffnung aufgegeben, über das Keuschheitsexperiment in Ägypten jemals etwas anderes zu hören als Märchen und Gerüchte, da ging mit einem Mal die Sensation von Mund zu Mund, Kassian sei abgesegelt nach Ägypten. Johannes Cassianus, einer der seriösesten christlichen Schriftsteller der späten Antike. Gewiss kein Genie der intellektuellen Sensibilität wie Hieronymus, aber dafür ein seriöser Arbeiter. Ein Rechercheur. In unerhörter Spannung wartete Rom auf Kassians Bericht.
Und dann die furchtbare Enttäuschung: Kassian, hieß es, sei vom Zölibat so begeistert, dass er nicht mehr davon loskomme. Er habe beschlossen, selber Wüstenvater zu werden und in Ägypten zu bleiben.
Über zehn Jahre ist Johannes Cassianus in Ägypten geblieben, zuerst in der Sketischen, dann in der Nitrischen Wüste. Als er schließlich doch zurückkam, war er ein anderer geworden. Etwas Unnahbares war jetzt um Kassian. Im Zölibat, sagte er, habe er selber Dinge erlebt, die man einem gewöhnlichen Sterblichen eigentlich gar nicht schildern könne. Als die Römerinnen und Römer ihn alle bedrängten, doch wenigstens ein bisschen etwas zu erzählen, wehrte Kassian ab. Man möge warten. Warten auf sein Buch.
Viele Jahre haben die Römerinnen und Römer warten müssen. Bis endlich, anno 428, das Jahrhundertwerk vollendet war. Es umfasst 28 Bände und trägt den verheißungsvollen Titel „Collationes Patrum”. Das heißt in heutiger Sprache: „Interviews mit den Wüstenvätern”. Rom stürzte sich auf den christlichen Bestseller.
Und siehe, das Warten hatte sich gelohnt. In 28 Bänden klärt Kassian sämtliche Widersprüche in den bisherigen Gerüchten aus Ägypten. Die Gerüchte I, also jene Gerüchte, wonach die Wüstenväter unter den Begierden des Fleisches wahnwitzig gelitten hätten, stimmten nämlich, schreibt Kassian; aber genauso stimmten auch die Gerüchte II, wonach sie von allen Begierden des Fleisches souverän frei gewesen seien.
Wie passt das zusammen? Ganz einfach. Der Zölibat ist, wie alles Lebendige, nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches. Das heißt: Die Keuschheit ist etwas, was sich entwickelt, und zwar, wie Kassian in Ägypten buchstäblich am eigenen Leibe erfahren hat, in sieben Stufen. In seinem zwölften Interview mit dem Wüstenvater Cheremon fasst er die ersten sechs Stufen wörtlich so zusammen:
„Auf der ersten Stufe beginnt die Keuschheit damit, dass der Asket tagsüber den Regungen des Fleisches nicht erliegt. Auf der zweiten Stufe verweilt er nicht einmal im Geiste bei solchen Unanständigkeiten. Auf der dritten Stufe macht es ihm nicht mehr den geringsten Eindruck, wenn er eine Frau sieht. Auf der vierten Stufe hören bei ihm, tagsüber, die Regungen des Fleisches überhaupt auf. Auf der fünften Stufe ist er in der Lage, über sexuelle Dinge zu reden wie über irgendwelche banalen und belanglosen Dinge. Auf der sechsten Stufe ist er auch des Nachts gänzlich frei von jenen Wunschträumen und Phantasien, vor denen uns Gott bewahren möge.”
An dieser Stelle wird Kassians Text merkwürdig konfus. In geheimnisvollen Andeutungen gibt er zu verstehen, dass es, darüber hinaus, noch eine letzte, höchste Stufe der Keuschheit gebe, die er selber in Ägypten erreicht habe, über die zu schreiben aber unmöglich sei. Was los sei auf dieser siebten Stufe der Keuschheit, verstünden nämlich nur jene wenigen Auserwählten, die sie, wie zum Beispiel er selbst, erreicht hätten.
Verehrte Leserinnen und Leser: Wir alle haben diese siebte Stufe der Keuschheit noch nicht erreicht. Worin sie besteht, darüber können wir nur ehrfürchtig spekulieren. Doch sei nicht verschwiegen, dass die Spekulationen, seit Kassians Buch erschienen ist, seit sechzehn Jahrhunderten also, in theologisch gebildeten Kreisen alle in die gleiche Richtung gehen: „Qui spiritu Dei repleti sunt, nudi incedunt.” Das heißt auf Deutsch: „Wer von Gottes Geist erfüllt ist, der kann auch nackt herumlaufen.”
Ist also auf der siebten Stufe des Zölibats alles wieder erlaubt? Das ist eine offene Frage. Historisch fest steht dies: Kassians „Collationes Patrum” sind einer der großen Wendepunkte der europäischen Geistesgeschichte. Durch so viele Jahrhunderte war Rom die Metropole aller Laster gewesen. Jetzt wird Rom zur cathedra der Keuschheit. Latein wird die Sprache des Zölibats.
Wie das kleine Zirkusmädchen Theodora eine mächtige Heilige wurde
Worin Frauen lernen, wie frau den Papst absetzen kann .
Wann sie geboren ist, Theodora, die große Kaiserin von Byzanz, das weiß keiner genau. Nur in gehobenen Kreisen war es damals üblich, das Geburtsdatum von Kindern festzuhalten. Theodora aber stammte aus dem allerniedrigsten, auch verrufensten Milieu. Im großen Zirkus von Konstantinopel ist sie als Kind eines Bärenwärters geboren. Zwischen all den Käfigen, in denen Löwen und Bären darauf warteten, vor dem ergötzten Publikum zu Tode gehetzt zu werden, hat sie ihre Kindheit verbracht.
Wo Gewalt ist, da ist auch Porno. Schon als kleines Mädchen tanzte Theodora mit in einer Gruppe von Schauspielerinnen, die unter dem Vorwand, die Liebesabenteuer des Zeus darzustellen, sich vor dem Zirkuspublikum entblätterten, etwa in der Art moderner Striptease-Künstlerinnen. Nach der Vorstellung empfingen die erwachsenen Tänzerinnen in den dunklen Kulissen des Zirkus spendable Verehrer aus dem Publikum. Aber auch die kleinsten Mädchen hatten schon ihre Freier. In unübersetzbar drastischen Worten schildert der byzantinische Historiker Prokop den pädophilen Missbrauch, dem das kleine Zirkus-Mädchen Theodora ausgesetzt war:
η δε τοις κακοδαιμονουσιν ανδρειαν τινα μισητιαν ανεμισγετο
(Προκοπιου Ανεκδοτα IX 10)
Theodora wächst heran. Im Zirkus von Konstantinopel wird sie eine sehr erfolgreiche, sehr begehrte Schauspielerin. Trotzdem versucht sie, aus dem Zirkus-Milieu auszubrechen. Von ihren vielen Liebhabern wählt sie einen aus, einen hohen Beamten namens Hekebolos. Er wird zum neuen Gouverneur von Libyen ernannt. Nicht als Ehefrau, wohl aber als seine Konkubine segelt Theodora mit nach Afrika. Kaum dort angekommen, bekommen die beiden Streit. Aus dem Gouverneurspalast fliegt Theodora hinaus auf die Straße.
Allein in Libyen!
Allein in einem Land, in dem damals schon Zustände herrschten wie heute wieder. Der nordafrikanischen Küste entlang schlägt Theodora sich durch bis in die ägyptische Hafenstadt Alexandrien. Wahrscheinlich hat sie auch dort im Zirkus getanzt. Weiter geht es quer durch die Levante. Der nächste feste Ort, wo wir sie sicher treffen, ist der Zirkus von Antiochien. Das ist heute ein türkisches Provinznest namens Antakia. Damals war es die Hauptstadt der Provinz Syrien und galt als die lebenslustigste Stadt der Welt.
Im Zirkus von Antiochien trifft Theodora eine Freundin namens Makedonia, die inzwischen ungewöhnliche Beziehungen hat. Für keinen Geringeren als Justinian, den Thronfolger in Konstantinopel, leitet sie ein Netz von syrischen Geheimagenten.
Und jetzt ein Gerücht in Konstantinopel: Justinian, der mächtige Neffe des Kaisers und designierte Thronanwärter, will heiraten. Das ist an sich keine Sensation, im Gegenteil, das erwartet alle Welt von ihm. Zum Skandal steigert sich das Gerücht, als bekannt wird, wen Justinian heiraten will. Was, die ? Die stadtbekannte Zirkushure?
All die edlen, reichen Familien von Konstantinopel haben ihm ihre gerade heiratsfähigen, ihre 16-jährigen Töchter angetragen, jede nicht nur unschuldig, sondern auch ausgestattet mit einer märchenhaften Mitgift. Er verschmäht sie alle. Diese will er haben, die Zirkushure, diese allein.
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