Ein Mensch zeigt dadurch z. B., ob sie/er freundlich oder feindlich gesinnt ist. Das findet unbewusst statt, üblicherweise legt man sich darüber keine Rechenschaft ab. Das Gegenüber kann dann im Gesicht den emotionalen Ausdruck an der Kopfhaltung z. B. soziales Annehmen oder Ablehnen und in der Stimme die Stimmung quasi lesen und hören, also ob die aktuelle Situation sicher oder unsicher bzw. gefährlich ist. Auch das findet sehr rasch und unbewusst statt.
Die Feinheiten beispielsweise der Stimme, die sogenannte Prosodie (Intonation, Satzmelodie, Stimmungsvariationen usw.) werden durch vom ventralen Vaguszweig beeinflusste Muskeln im Kehlkopf/Stimmbandbereich und Schlundmuskulatur im Zusammenspiel mit anderen Hirnnerven hervorgerufen. Das ist so individuell, dass man jemanden am Telefon an seiner/ihrer Stimme erkennen kann, ja digital sogar die Stimme als Signatur zur Identifikation nutzen kann. Und die Stimmung wird dabei mittransportiert, allerdings bewusst nicht immer wahrgenommen.
Dieses System ist also, anders als die eher reaktiven, rückgekoppelten Nerven-Funktionen von Sympathikus und Parasympathikus, ein auch proaktives soziales System, es stellt einem Gegenüber einen Ausdruck der inneren Verfassung, Gestimmtheit und Einstellung zur Situation zur Verfügung. Das Gegenüber macht es ebenso. So können beide aus der Mimik, Stimme, Körperhaltung und Gestik herauslesen, wie die Situation weitergehen kann, welche kommunikativen Handlungen Sinn machen oder ob ein Rückzug angezeigt ist. Dieser jeweilige Ausdruck für andere ist kaum zu unterdrücken, quasi ein soziales, freiwilliges Angebot an die Umwelt, um die passende Kommunikation zu finden.
Bei der Wahrnehmung und dem Lesen im muskulären Muster des Gegenübers spielen die Sinne und auch die sogenannten Spiegelneurone mit dem ventralen Vaguszweig zusammen. Spiegelneurone sind Neurone, die optisch erfassbare muskuläre Muster eines Gegenübers im eigenen Gehirn abbilden können. Dies ist dann auch als Abbildung mit Empfindungen aus dem eigenen Erfahrungsschatz verbunden, die eine Ahnung vermitteln, was das Gegenüber gerade fühlt. Aufgrund spezieller Zusatzneurone, die ganze Handlungspläne speichern, kann dann bei ausreichender Erfahrung aus dem angedeuteten Bewegungsmuster auch auf das mögliche Weiterführen der muskulären Aktionen, also die Absichten, geschlossen werden.
Auch die Reaktion auf das Erfassen der Situation, also ein Eingehen auf die Begegnung oder Abwendung durch unbewusst erfolgende minimale Änderungen des eigenen muskulären Musters, teilt sich dem anderen dann sofort mit.
Das System ist dabei gut in der Lage, sozial adaptiv zu wirken, also ohne Kampfmodus kommunikativ flexibel zu reagieren, auch bei einem verbalen Angriff z. B. ins Gespräch zu kommen, im Gespräch zu bleiben oder auch zu gehen. Das ist die große Errungenschaft dieses Systems und es hat vermutlich zu einem besseren Überleben in größeren Gruppen geführt.
Der ventrale Vaguszweig kann aber nur die Führung im ANS halten, wenn er durch Balance im Leben des Menschen, Pausen und gutem Schlaf entspannt bleibt und durch interessante und herausfordernde Begegnungen gut trainiert wird. Damit entsteht dort ein kommunikatives Repertoire, was einen den Großteil der Situationen im Leben kommunikativ stressarm beantworten lässt ohne Hilfe von Stressantworten des Sympathikus, die immer etwas aufgeregter, heftiger und unreflektierter ausfallen.
Das ANS unter Führung des ventralen Vaguszweiges fragt also ständig in Windeseile Informationen aus der Umgebung und der inneren Verfassung ab auf Gefahren, stressige Herausforderungen oder ausreichend sichere Lage.
Dieses System reguliert dann z. B. auch unverzüglich den für die Situation notwendigen Herzschlag, und falls die Situation nicht dramatisch ist, hemmt das System auch Reaktionen aus dem Sympathikusanteil des ANS, andernfalls sinkt der Tonus im sozialen System und der Herausforderungs- bzw. Kampf- oder Fluchtmodus wird über den Sympathikus mobilisiert.
Diese Einschätzungen wurden in früheren Zeiten nur über die äußeren, mit den Sinnen zu erfassenden Situationen in der jeweiligen Umgebung getroffen im Abgleich zu archaischen, eigenen oder Gruppen-Erfahrungen.
Heutzutage kommen in stärkerem Umfang auch Informationen und Signale aus dem individuellen Inneren, insbesondere aus dem Denken bzw. emotionalem Erleben dazu, wie gefühlte Ablehnung, Erniedrigung, Selbstwertzweifel usw. als aufgespürte Gefahren, die den Tonus des ventralen Vaguszweiges drosseln und den Sympathikus mit Stressreaktionen auf den Plan rufen.
Das ist eine Bürde, manchmal auch Sackgasse des die starke Individualisierung befördernden und bindungsauflösenden „Fortschritts“ unserer heutigen Zeit, u. a. eine Auswirkung und Folge fehlender Liebe und Vertrauen ins Leben in den ersten Lebensjahren und nicht ausreichend gelungener Selbststeuerung.
Das soziale System und die Bindung
Der ventrale Vaguszweig ist wie die Liebe der Eltern eine wesentliche Grundlage für das dyadische Erleben und dieses wieder für die kraftvolle Entwicklung dieses Nerven. Das Bindungsverlangen und die Bindungsfähigkeit sind uns damit sozusagen angeboren und der ventrale Vaguszweig muss im Weiteren stabil weiterentwickelt werden, damit wir den ganzen Nutzen in unserer sozialen Interaktion immer zur Verfügung haben.
Der ventrale Vaguszweig ist schon vor der Geburt tätig, kennt insbesondere die Stimme der Mutter und empfindet ebenso ihre Stimmung, ggf. ihren Stress. Nach der Geburt findet, wie bereits beschrieben, die dyadische Kommunikation von Mutter und Kind im permanenten Erleben statt. Dadurch entwickelt das Kind immer weiter Sicherheit und Bindung.
Der zentrale Vaguszweig hat dabei eine herausragende Bedeutung und durch die sichere Bindung, die das Kind erlebt, erfährt ebenfalls dieser Teil des ANS beim Kind einen kräftigen Tonus. Damit ist er in der Lage, den Sympathikus in seinen Stressantworten zu begrenzen, was lebenslang eine Ressource für das Kind darstellt im Sinne einer erworbenen Resilienz.
Aber auch dieses System muss wie gesagt trainiert werden, und wir trainieren, indem wir im weiteren Leben gute Bindungen eingehen mit Freunden, Partnern, unseren Kindern, aber auch Arbeitskollegen und Geschäftspartnern, generell also kommunikative Herausforderungen suchen.
Die Entwicklung eines kräftigen Tonus im ventralen Vaguszweig gehört also gleichermaßen zur gesunden Hirnentwicklung eines Kindes.
Für die Frage der körperlichen Unversehrtheit auch bei Kindern müssen wir uns jetzt insbesondere noch die Thematik der sogenannten Telomere anschauen.
1.4 Telomere und ihre Bedeutung
Telomere sind die Endstücke der Chromosomen (die Chromosomen befinden sich im Zellkern und tragen die Gene, unser Arsenal an Erbinformationen). Die Telomere werden häufig mit den Plastikenden von Schnürsenkeln verglichen, die auf die Enden der Schnürsenkel aufgesetzt werden, damit diese nicht ausfasern.
Entsprechend schützen auch die Telomere die Chromosomen-Enden. Nun können die Telomere kurz oder lang sein. Vereinfacht gesagt sind lange Telomere gut für die Gesundheit und ein gesundes, langes Leben und kurze Telomere sind für beides eher ungünstig.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass krankheitsfördernde Lebensweise und Dauerstress sich auf die Länge der Telomere auswirkt und zwar verkürzend. Umgekehrt kann eine längere gesundheitsförderliche Lebensweise die Telomere wieder verlängern.
Es ist jetzt in einigen Untersuchungen nachgewiesen worden, dass die Länge der Telomere sich vererbt, also die Telomere schon beim Embryo und nach der Geburt so sind wie bei den Eltern. Daher schauen wir später noch genau auf die Situation bei der Empfängnis.
Dieser Zusammenhang ist in der Grafik 3 dargestellt, indem Vererbung der Telomere und Lebensweise ins Verhältnis gesetzt wurden. D. h., dass sich kurze Telomere und eine krankheitsfördernde Lebensweise ungünstig potenzieren und lange Telomere und gesundheitsförderliche Lebensweise günstig potenzieren. Der gute Effekt bei der letzteren Kombination ist insbesondere, dass man im Alter wenige Krankheiten hat und eher gesund erst im hohen Alter stirbt.
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