Maisblüte schwieg dazu. Wahrscheinlich waren die Frauen an den gleichen Entbehrungen gestorben, die auch sie erleiden musste. Einige hatten sich auch erhängt, wie es Vogel-im-Bach getan hatte. Ein Mädchen war an den Misshandlungen der Männer verblutet und ein anderes Mädchen eines anderen Volkes starb, als es viel zu früh ein Kind gebar. Auf dem langen Marsch hatte sie zum ersten Mal wieder mit anderen ihres Volkes sprechen können, die ihr diese grausamen Wahrheiten erzählt hatten. Alle litten unter den Demütigungen und der schweren Arbeit, die ihnen auferlegt wurde. Viele waren wie sie in Ketten gelegt worden, es gab aber auch Gefangene von Stämmen aus dem Osten, die sich ohne Fesseln bewegen durften. Es waren wenige. Maisblüte hatte verstanden, dass die meisten Gefangenen entweder gestorben oder, wenn sie Glück hatten, gegen Lebensmittel und andere Geschenke wieder ausgelöst worden waren. „Wenn wir ihnen nicht mehr nützlich sind, dann töten sie uns oder schicken uns weg!“, hatte eine Gefangene der Coosa erzählt. „Es wird auch nicht besser, wenn man ihre Kinder gebiert, denn für die Söhne der Sonne sind diese Kinder keine wahren Kinder, sondern nur weitere Sklaven.“
Maisblüte hatte auch diese Worte verstanden. Bei ihrem Volk besserte sich der Status einer Gefangenen, wenn sie dem Volk Kinder gebar. Warum das bei den Fremden nicht so war, konnte sie nicht begreifen. „Manchmal freuen sie sich auch, wenn ein Kind geboren wird, aber meist wird die Frau dann weggeschickt. Eine Frau, die ein Kleines stillt, kann nicht so viel tragen und ist damit weniger wert.“
Maisblüte wollte manchmal nichts mehr hören und sehen. Sie schlurfte in dem Tross aus Soldaten, Frauen und Kindern, sah, wie die seltsamen Schweine getrieben wurden und die Menschen Karren mit Rädern hinter sich herzogen. Diese Karren waren das einzig Sinnvolle, das sie bisher gesehen hatte, obwohl sie oft holpriges Gelände durchquerten, bei denen diese Karren eher hinderlich waren. Die Wege der Einheimischen waren Trampelpfade, die auf alten Wildwechseln entstanden waren. Sie waren kaum so breit, dass ein Karren auf ihnen gezogen werden konnte. Deshalb brauchten sie auch so viele Träger. Die Frauen schnauften unter der Last des Werkzeugs und der schweren Truhen. Es war kalt und viele hatten nicht genug Kleidung am Leib, weder die Fremden noch die Gefangenen.
Zum ersten Mal erkannte sie, dass es auch um die Fremden nicht gut stand. Deshalb erbeuteten sie ja auch alles, was sie fanden. Für Maisblüte war das ein Hoffnungsschimmer. Die Kampfkraft der Fremden würde nachlassen. Ihre Aufmerksamkeit würde abgelenkt sein und dann konnte sie über Flucht nachdenken. Sie hoffte darauf, dass der Mann sie eines Tages wegschickte, weil er sie als Belastung sah oder er seine Vorräte nicht mehr teilen wollte. Sie war jung und hübsch. Vielleicht fand sie ein anderes Dorf, in dem sie leben konnte? Oder würden feindliche Krieger sie einfach töten, wenn sie auf sie stieß? Was geschah dann mit Nanih
Waiya? Würde der Mann auch ihn wegschicken, wenn er ihrer überdrüssig wurde? Noch war sie nicht bereit, das Leben ihres Bruders zu gefährden oder ihn allein zu lassen.
Also flehte sie zu Hashtali, damit er ein Einsehen hatte und sie endlich von diesen Schmerzen befreite. Keine Fesseln mehr, bitte, keine Fesseln mehr. Aber der Sonnenvater schwieg und ließ sie in ihrem Schmerz alleine. Ihre Züge verhärteten sich im Laufe der Gefangenschaft. Jeder Tag erschien ihr wie ein ganzes Leben. Sie nutzte jede Möglichkeit, um sich zu schonen, und bewegte sich nur, wenn der Mann es ihr befahl.
* * *
Dann ging auch das nicht mehr, denn der Tross war wieder nach Norden aufgebrochen. Vorbei war es mit der kurzen Pause und der Möglichkeit, ihre Gelenke zu schonen. Maisblüte stolperte schon seit Tagen in der Kolonne der Spanier und fragte sich, wann der Weg ein Ende hätte. Sie hatte die Wolken am Himmel beobachtet und wusste, dass sie Schnee brachten. Wieso rasteten die Fremden nicht? Der Winter war eine Zeit der Ruhe, doch diese Menschen schienen keine Ruhe zu kennen. Nanih Waiya fror erbärmlich und hielt sich nur durch Bewegung warm. Am Abend kuschelte er sich ans Feuer und hüllte sich in ein Fell, das kaum gegerbt war. Auch Maisblüte fror. Der Umhang war nicht geeignet, die Kälte auf lange Zeit abzuhalten. Sie brauchten eine Chukka mit Schutzwänden und dem heiligen Feuer in der Mitte. Das Zelt des Mannes nässte bei Regen durch, sodass die Ersatzkleidung feucht wurde. Maisblüte versuchte stets, die Kleidung am Feuer wieder zu trocknen, aber sie machte sich Sorgen, wie es weitergehen sollte.
Zum Glück fror auch Juan, sodass sie hoffte, dass der Gouverneur bald ein Lager für den Winter aufschlagen ließ. Sie fragte sich nur, wie sie in den Zelten überwintern sollten. Sie dachte an ihr erhöhtes Schlafgestell, an die warmen Decken und das gemütliche Kissen in der Chukka ihrer Eltern. Dort hatten es Töpfe aus Ton gegeben, Löffel aus Horn, Körbe aus Binsen und stets gutes Essen. Vater hatte gejagt und gefischt, sie hatten Mais, Bohnen und Kürbis angepflanzt und die Früchte der Bäume gesammelt. Ihr Leben war gut gewesen, bis diese Fremden es in einem Tag zerstört hatten. Der Norden war kalt und unfreundlich. Sie hatte Angst, dass sie und ihr Bruder den Winter nicht überleben würden. Sie fertigte ihm einfache Beinkleider und Mokassins aus den Häuten, die der Mann ihr gegeben hatte. Außerdem schnitt sie einen Umhang aus Fellen, den der Junge nur über seinen Kopf ziehen musste. Nanih Waiya strahlte sie mit zwei Lücken in den Zähnen an und freute sich über die warme Kleidung. „Du brauchst auch etwas Warmes!“
Maisblüte nickte. Auch sie hatte Felle um ihre Beine gewickelt und trug einen warmen Umhang. Sie hatte alle Felle verwendet und hoffte, dass der Mann nicht wütend wurde.
* * *
Juan hatte die nächsten Tage Zeit, denn der Gouverneur wollte die Indios überlisten und an einer anderen Stelle den breiten Fluss überqueren. Er ließ ein Lager errichten und gab seinen Soldaten ein paar Tage frei. Juan nutzte die Zeit, um zu jagen. Er erlegte einen Hirsch und erlaubte auch Maria, davon zu essen. Er steckte Leder zwischen das Eisen der Ketten und ihrer Haut, damit sie nicht mehr so scheuerten. Er erlaubte, dass sie meist im Zelt blieb, damit die Verletzungen heilten. Er dachte darüber nach, Maria bald von den Ketten zu befreien, um ihre Arbeitskraft zu erhalten. Außerdem sorgte er sich um das Seelenwohl der beiden und nahm sie zu den sonntäglichen Messen mit. Er wollte die beiden taufen lassen, um von zivilisierten Wilden umgeben zu sein.
Eigentlich waren die Tage in diesem Land völlig gleichgültig, aber sie hatten trotzdem die Wochentage gezählt und sonntags die Messe gelesen. Seit dem Kampf bei Mabila hatte es nur noch Wasser als Messwein gegeben, obwohl die Lagermeister versuchten, Mais zu vergären. Sie stellten eine Art Bier her, das süßlich schmeckte und zur Not getrunken werden konnte. Vor einem Kampf hatte es eine enthemmende Wirkung auf die Truppen, weshalb der Gouverneur den Ausschank gestattete. Als Messwein wurde es jedenfalls nicht ausgeschenkt. Auch gab es keine Hostien mehr. Die Priester und Messdiener hatten die meisten Utensilien verloren, sodass die Messe sich inzwischen auf mahnende Worte beschränkte. Der Priester warnte vor den unfrommen Wilden und dem Fluch der Fleischeslust. Natürlich war ihm nicht verborgen geblieben, was mit den gefangenen Frauen geschah, aber verhindern konnte er es kaum. Er ließ die Wilden knien und taufte sie im Namen Christi, um sie vor der Hölle zu bewahren. Einige Indios, die seine Worte verstanden, wandten sich nur allzu gerne diesem neuen mächtigen Gott zu, denn sie erhofften sich dessen Schutz.
Auch Maria und Nana wurden getauft, obwohl sie kaum verstanden, was diese Zeremonie bedeutete. Außerdem änderte es nichts. Juan jedoch war zufrieden und sah sich als großzügiger Herr. Er hatte seine Sklaven vor dem Fegefeuer bewahrt. Nun sah er in ihnen Diener, denen man eine gewisse Sorge angedeihen ließ. In einem Kessel schmorte die Suppe und er erkannte, dass die beiden offensichtlich schon gegessen hatten. Juan lächelte gönnerhaft und stemmte die Hände in die Hüften. „Welche Maus hat denn hier genascht?“
Читать дальше