Nach etwa sechs Minuten Fahrt mündete die Straße in ein herbstbuntes Waldgebiet. An einigen Stellen regnete es Laub. Nicht mehr lange, und der Frost würde einkehren.
»Anhalten!«, schrie Julia, und Rösler bremste so abrupt, dass beide mit einem Ruck nach vorne katapultiert wurden.
Rösler guckte erschrocken drein.
»Da war ein Weg«, sagte Julia.
Rösler legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit heulendem Motor zurück. Tatsächlich. Linker Hand führte ein Weg in den Wald. Wegen der einsetzenden Dämmerung hätte Julia ihn fast übersehen.
»Was hätte sie da zu suchen gehabt?«, fragte Rösler.
»Ich weiß es nicht. Aber es ist der einzige Abzweig nach sechs Minuten Fahrt.«
Sie stiegen aus, überquerten die Straße und beschritten einen laubbedeckten, matschigen Pfad, der schnurgerade durch ein Waldstück führte und in der Ferne an einem Feld zu enden schien. Ein umgestürzter Baum verhinderte ein problemloses Weiterkommen.
»Hier kann sie nicht langgefahren sein«, sagte Julia und blieb resigniert stehen. »Sie hätte höchstens zu Fuß bis zu dem Feld dahinten gehen können. Doch warum hätte sie das tun sollen?«
Rösler sah sich um. Die Dämmerung hatte eingesetzt. »Was ist das?«, fragte er, und Julias Blick folgte seinem Finger, der in den Wald zeigte. Abseits des Wegs ragte etwas Stangenartiges aus dem Laub. Möglicherweise hatte jemand seinen Müll im Wald abgeladen.
Sie liefen zu der Stelle, wobei das Laub unter ihren Füßen raschelte. Als sie näher kamen, erkannte Julia den Lenker eines Fahrrades.
Rösler holte Einmalhandschuhe aus seiner Jackentasche, packte den Rahmen und zog ein rosafarbenes Damenfahrrad aus der Blätterschicht. Auf dem Unterrohr konnte man deutlich einen verschnörkelten Schriftzug erkennen: »Miss Grace«.
Mittwoch, Woche eins
Die Luft war feucht und kalt, als Carla aus dem Wagen stieg und den Kragen ihrer Jacke hochschlug. Eine dichte Frühnebelschicht hatte sich über die herbstbunten Laubbäume gelegt. Es war gespenstisch still im Wald. Carla war jedes Mal fasziniert von der Naturschönheit der Schorfheide. Wälder, Wiesen, Sümpfe und Seen prägten die Landschaft. Hier bei Kappe, in der Nähe der Havelniederung, dominierten Stieleichen, Linden und Birken den Baumbestand. Es war der Weite und Einsamkeit geschuldet, dass bedrohte Tierarten wie Seeadler, Schwarzstörche und Wölfe in der Großen Heide, wie die Schorfheide auch genannt wurde, leben konnten. Früher hatten Kaiser Wilhelm II., NS-Reichsmarschall Hermann Göring und einige DDR-Größen die Landschaft zu ihrem Jagdgebiet erkoren. Deshalb waren die Wälder auch von Rodungen verschont geblieben. Um ungestört jagen zu können, hatten die Sozialisten sogar Teile der Schorfheide für das gemeine Volk gesperrt. Glücklicherweise waren solche Zeiten vorbei.
Sie schloss die Fahrertür mit einem lauten »Klack«, das die Waldesruhe für einen kurzen Moment störte. Normalerweise wurde der Tatort von einem Polizisten bewacht, um Schaulustige fernzuhalten, die zuhauf angereist kamen. Doch sein Dienst begann erst um acht Uhr.
Das Haus des Ermordeten lag an einem Kopfsteinpflasterweg, der sich hinter dem Grundstück zwischen den Bäumen verlor. Bruno hatte sich am Lenkrad aufgerichtet und sah Carla enttäuscht hinterher, als sie auf das Haus zuging, ohne ihn mitgenommen zu haben. Seitdem sie die Schorfheide erreicht hatten, hatte er wie verrückt gebellt, weil er auf einen Spaziergang gehofft hatte. Aber Carla wollte ihn noch immer nicht am Tatort herumlaufen lassen. Er könnte Spuren verwischen.
Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Die E-Mail, die der Ermordete seinem Bruder geschrieben hatte, irritierte sie. »Es sind schlimme Dinge geschehen, von denen du nichts weißt«. Was hatte er damit gemeint? Carla fragte sich, ob diese »Dinge« mit seiner Ermordung in Verbindung standen. Auch beschäftigte sie die Aussage des Kompagnons Leo Rapp, dass der Ermordete eine Freundin gehabt haben sollte. Eine Freundin, die niemand zu Gesicht bekommen hatte. Wer war diese Frau? Und warum hatte Nico Römer sie vor seinem Kumpel geheim gehalten?
Carla hoffte, am Tatort den einen oder anderen Hinweis zu finden, auch wenn die meisten Spuren vom Feuer vernichtet sein dürften.
Die ausgebrannten Fensterhöhlen waren mit einer dicken Plane abgedeckt, die sich an einigen Stellen bereits gelöst hatte. Carla zückte eine Taschenlampe, nahm die Plane an einer losen Stelle beiseite und stieg ins Haus. Es roch noch immer nach verbranntem Holz.
Der Raum, in dem sie sich befand, schien das ehemalige Wohnzimmer zu sein. Als sie sich umsah, verflog ihr Eifer, den sie noch auf der Herfahrt verspürt hatte, und sie fragte sich, ob es wirklich sinnig war, in diesem Chaos nach einer Spur zu suchen. Wo sollte sie anfangen?
Das Zimmer war übersät von verbrannten Möbelresten und Schutt. Vor einem umgekippten Schrankregal türmten sich brandvergilbte Bücher. Carla leuchtete mit der Taschenlampe darauf und versuchte, Buchtitel zu entziffern. Bei einigen schien es sich um Fachliteratur zu Computern und Informatik zu handeln, andere waren Splatter-Romane, darunter »Das Hotel des Todes« oder »Der Mörder mit dem Kruzifix«.
Auch in der Küche, die sich ans Wohnzimmer anschloss, sah es verheerend aus. Hängeschränke waren von der Wand gekracht, der Boden war bedeckt mit Töpfen, Pfannen und zerbrochenem Geschirr.
Nachdem sie auch Schlaf- und Arbeitszimmer inspiziert hatte, stieg sie wieder ins Freie. Bruno bellte noch immer. Er musste etwas gesehen haben, ein Reh vielleicht oder ein Wildschwein, die gewöhnlich um diese Uhrzeit aktiv waren. Sie spähte zum Auto, das etwa fünfzig Meter weit weg stand, konnte aber nichts entdecken.
Frust stieg in ihr auf. Sie hatte sich die Suche einfacher vorgestellt. Nun hatte sie zwei Möglichkeiten. Entweder brach sie die Aktion ab und wartete, bis das Haus geräumt und die persönlichen Sachen des Opfers geordnet waren. Oder sie mobilisierte ihre Energiereserven und arbeitete sich durch den Schutt hindurch. Aber es gab noch eine dritte Option. Möglicherweise war der Keller vom Brand verschont geblieben.
Sie begab sich hinter das Haus, wo sich ein großer Garten bis zum Waldrand erstreckte. Der größte Teil bestand aus Rasen, auf dem vereinzelt Obstbäume wuchsen. Astern, deren rote und lilafarbene Blüten allmählich verwelkten, bildeten die einzigen Farbtupfer in einer ansonsten spätherbstlichen Tristesse.
An der Rückwand des Hauses führte eine Treppe mit einem rostigen Geländer zu einer Kellertür hinab. Die Stufen waren durch den Einsturz des oberen Stockwerkes unter Schutt und Balken vergraben. An einigen weniger verschütteten Stellen lugten rote Backsteinstufen hervor. Carla hielt sich am Geländer fest, während sie vorsichtig über das Geröll nach unten stieg. Die grüne hölzerne Kellertür war noch fast vollständig erhalten. Sie ließ sich durch einen leichten Druck auf die Klinke öffnen.
Weil das Licht nicht funktionierte, knipste sie ihre Taschenlampe an. Es roch vermodert.
Sie leuchtete in einen Gang, von dem mehrere Räume abgingen. Gleich vorne links befand sich ein Heizkessel, in einem weiteren Raum stapelten sich alte Möbel, Hausrat und ein CD-Player. Auf dem Boden stand eine große Truhe, die komplett aus Eisen bestand. Carla versuchte, den Deckel zu öffnen, aber die Truhe war verschlossen. Was war so wertvoll, dass es sogar im Keller hatte verschlossen werden müssen?
Sie suchte das Gerümpel nach einem Schlüssel ab. Es standen mehrere Dosen und Kistchen herum, die Carla allesamt aufmachte. In einem asiatisch verzierten Holzkästchen fand sie schließlich einen Schlüssel, der tatsächlich in das Truhenschloss passte.
Der Eisendeckel ließ sich nur schwer anheben.
Mit ihrer Taschenlampe leuchtete sie ins Innere der Truhe und fand allerhand Zeugnisse, Klassenarbeiten und Studienunterlagen.
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