Kurt Anglet Vorausbilder
Kurt Anglet
Zu Arnold Schönbergs Kriegswolkentagebuch
Vier Aufsätze
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Umschlag: Peter Hellmund
Druck und Bindung: Druckerei Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-429-03422-1 (Print)
ISBN 978-3-429-04609-5 (PDF)
ISBN 978-3-429-06022-0 (Epub)
Vorwort
Zeichen am Himmel
Kinder auf der Landstraße – Kinder spielen Angriff(Franz Kafka; Paul Klee)
Dialektik der Zerstreuung
Das Erkalten der Liebe
Vorwort
Messianische Gegenwart und eschatologische Vollendung
In einem Brief vom 17. November 1935 an Jacques Maritain berichtet Erik Peterson im Anschluss an seinen Vortrag über »Die Kirche aus Juden und Heiden« am 6. November in Basel, wo er als Gast bei Karl Barth weilte: »Ich habe bei 4 Vorträgen, die ich kürzlich in der Schweiz hielt, verspürt, wie sehr man nach einer theologischen Deutung der Vorgänge in der Gegenwart Verlangen hat.« – Gewiss, in dem besagten Vortrag gibt es manche durchaus freimütige Hinweise auf das Zeitgeschehen. Ebenso finden sich entsprechende Bezüge in der gerade abgeschlossenen Abhandlung »Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum« (wir selbst haben sie im Hinblick auf ihre Zeit gedeutet). Doch schon der Untertitel verrät die historische Ausrichtung. Um es vorwegzunehmen: Peterson, der aufgrund seiner Wiederentdeckung der frühchristlichen Eschatologie wie kein Zweiter zu »einer theologischen Deutung der Vorgänge in der Gegenwart« prädestiniert schien, ist trotz mancher scharfsinniger Beobachtungen zum Zeitgeschehen in seinen »Fragmenten« und den erst kürzlich publizierten Tagebuchaufzeichnungen eine theologische, genauer: eine eschatologische Deutung seiner Zeit schuldig geblieben, obwohl er beide Weltkriege als Erwachsener erlebte.
Die Gründe hierfür dürften teilweise im Autobiographischen zu suchen sein; in der einem Exil vergleichbaren Lebenssituation des zwar nicht mehr jungen, so doch jungverheirateten Gelehrten im Rom der Vorkriegszeit. In einem Brief an Gerard van der Leeuw vom 12. Februar 1934 lässt Peterson durchblicken: »Ob ich für immer hier bleiben kann, ist ungewiss, vielleicht muss ich im Herbst wieder nach Deutschland zurück. Ich bliebe am liebsten einige Jahre hier, bis sich die politischen Verhältnisse in Deutschland stabilisiert haben. Es hat sich so vieles ereignet, was ich nicht verstehen kann.« Doch wie sehr die politischen Verhältnisse auch sein Privatleben tangierten, insofern er bald – wie er im selben Brief bereits ahnte – sein früheres Professorengehalt verlieren sollte, so war gleichwohl nicht allein die schier aussichtslose persönliche Lage für eine ausbleibende theologische Zeitdiagnose ausschlaggebend, wie die anschließende Feststellung beweist: »Vielleicht gehöre ich einer Generation an, die schon vergangen ist und die vielleicht niemals ihren [Kairos] gefunden hat.«
Den Kairos nicht gefunden zu haben, bedeutet nicht weniger, als nicht zu wissen, was die Stunde geschlagen hat – ein Aquarell von Paul Klee aus dem Jahre 1936 trägt bezeichnenderweise den Titel »Die Ratlosen«, in englischer Übersetzung: »The perplexed Ones«. – Nichts schlimmer, als wenn es jemand die Sprache verschlagen hat; als wenn keinen Rat weiß, wer um Rat gefragt ist: immerhin gehört der Rat zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes. Doch nicht um einen Einzelnen geht es hier, sondern um das Porträt einer Generation, die von den Dämonen ihrer Zeit gebannt scheint. Bereits Anfang der zwanziger Jahre hat der Schriftsteller Franz Kafka das Bild jener Generation entworfen, die den Ersten Weltkrieg überlebt hat, um ihrem Untergang im Zweiten entgegenzusehen: »Wir leben in einer so von Dämonen besessenen Zeit, daß wir das Gute und Gerechte bald nur noch in tiefster Verschwiegenheit wie einen Rechtsbruch werden verwirklichen können. Der Krieg und die Revolution klingen nicht ab. Im Gegenteil! Durch das Erkalten unserer Gefühle steigt ihre Glut.«
So zutreffend Kafkas Diagnose; so treffend das Porträt Klees – es handelt sich um das Bild jener Generation zwischen den beiden Weltkriegen, also einer Generation, deren Gegenwart sich auf den schmalen Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft beschränkt. Man könnte auch sagen: die bald der Vergangenheit angehören, weil sie der Zukunft beraubt werden wird. Diese nämlich wird neben einem Heer von Toten einzig Überlebende kennen, wie nach einem Schiffbruch, dem der Zeitbruch der Moderne gleicht.
Alle Versuche, diesen Zeitbruch historisch zu glätten, sind gescheitert und müssen scheitern, weil es eine Kontinuität allein aus einer messianischen Perspektive der Geschichte gibt: im Durchbrechen ihrer dämonischen Kräfte. Alles andere als religiöse Metaphorik ist es, wenn Jesus Christus dem Vorwurf, mit ihnen im Bunde zu stehen, begegnet: »Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen« (Lk 11,20). Gleichwohl scheint dessen Gegenwart verborgen, wo die Dämonen auf den Plan treten, um das Gedächtnis ganzer Generationen auszulöschen. Es bedroht nicht nur die unzähligen Namenlosen, die alsbald dem Vergessen anheimgegeben sind. Nicht weniger die großen Geister der Vergangenheit, worum ein ihnen wie nur wenige verpflichteter Geist wie Reinhold Schneider wusste, wenn er sein Werk »Dämonie und Verklärung« aus dem Jahre 1947 mit dem Satze einleitet: »Unsere Beziehung zum 19. Jahrhundert und seinen Geisteswerken ist in Verwandlung begriffen; die Stimmen seiner Dichter erreichen uns nur noch wie durch Rauch und Feuer, über Gräber und verwüstete Städte.« Deshalb gibt es keinerlei geistesgeschichtliche, keinerlei kulturgeschichtliche Kontinuität, mögen auch die großen Werke der Vergangenheit die Katastrophe überdauert haben. Obwohl Schneider ihnen voller Schwermut anhing, hat er ihren prekären Status genau umschrieben, wenn er im folgenden Absatz festhält: »Die Bezirke des Geistes sind immer der Ort der Anfechtung gewesen. Wie es zweierlei Macht gibt: Allmacht und die von ihr zugelassene Macht des Abgrundes, so gibt es auch zweierlei Licht: das Licht vom Lichte und die Blendung; wir müssen den Mut der Unterscheidung fassen, aber wir dürfen an verwirrenden Gebilden nicht achtlos vorübergehen, können sie uns doch Erschütterndes sagen von den Verwirrungen unseres eigenen Geistes und Herzens. Die Kämpfe des Geistes sind ein großartiges Vorspiel der Geschichte, nicht aber die Geschichte richtet den Geist, sondern die Wahrheit richtet ihn, wie sie auch die Geschichte richtet.«
Mit dieser Aussage korrigiert Schneider nicht allein die von uns früher kritisierte idealistische Auffassung der Geschichte, wie sie noch im Titel seines Vortrags vom 21. Februar 1946 an der Universität Freiburg i. Br. anklingt: »Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte« (Baden-Baden 1946). Vielmehr erscheint wie der menschliche Geist auch die Geschichte vor dem Gericht der Wahrheit – und zwar nicht erst im Lichte des Jüngsten Tages, also des Endgerichts, sondern angesichts der messianischen Gegenwart des Menschensohnes, von dem es einleitend in Ps 110 heißt: »So spricht der Herr zu meinem Herrn: / Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße.«
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