Um 1850, als die Tuberkulose auch in Europa und den USA epidemisch war und vielerorts als unheilbar galt, begann ein schlesischer Arzt, deren Heilbarkeit zu propagieren: Hermann Brehmer stellte 1853 in seiner Dissertation die These auf, dass die Tuberkulose in ihren frühen Stadien immer heilbar sei. 29Brehmer nahm ein althergebrachtes medizinisches Konzept zu Hilfe: die antike Diätetik. Diese bildet neben Operation und Medikament den dritten Ansatz medizinischer Therapie und geht davon aus, dass Umweltfaktoren Ursache von Krankheit und Gesundheit sind. 30Ausschlaggebend sind die sogenannten «sex res non naturales», die sechs nichtnatürlichen Dinge: Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen, Gemütsbewegungen. 31Da die «sex res» über Krankheit und Gesundheit entscheiden, gilt es, diese günstig zu beeinflussen. So empfahlen die antiken Ärzte Hippokrates und Galen als therapeutische Massnahme einen Wechsel in gesundheitsförderndes Klima. 32Das antike Schema der «sex res» wurde gegen 1800 aufgrund der neuen bürgerlichen Wertschätzung der Gesundheit wieder breit rezipiert und setzte sich im 19. Jahrhundert als konzeptionelle Basis der Hygiene durch. Mit Hygiene ist hier nicht wie heute die von der Bakteriologie geprägte Idee der keimfreien Sauberkeit gemeint, sondern das umfassende Gesundheitskonzept der Diätetik mit den «sex res». 33
In der Tuberkulosetherapie des 19. Jahrhunderts setzten Ärzte auf diätetische Massnahmen. 34Verschiedene Mediziner beschrieben die günstige Wirkung, die ein Wechsel in ein als gesund angesehenes Klima auf Kranke mit Lungentuberkulose hatte. Anfänglich empfahlen Klimatherapeuten vor allem milde Klimate am Mittelmeer oder Orte am Seeufer. Die Berge waren hingegen noch kein Thema. 35An den Erholungsorten des Mittelmeers entstanden detaillierte Verhaltensvorschriften für die Kranken zur «Förderung des Wohlbefindens», wie der französische Historiker Alain Corbin schrieb. 36Der englische Arzt Harry Bennet berichtete 1814, wie seine Tuberkulose durch Aufenthalt in Mentone an der Côte d’Azur (im Winter) und in Schottland (im Sommer) heilte. 37Vielfach aufgelegt wurde die Studie des englischen Arztes James Clark, The Sanative Influence of Climate. Er empfahl Tuberkulosekranken den Wechsel in ein mildes Klima («a very powerful remedy»), nebst reichlicher Ernährung und Aufenthalt in frischer Luft. 38Auf diese Elemente setzte auch Hermann Brehmer. Er verband seine Verkündung von Heilung allerdings nicht mit Orten am Mittelmeer. Vielmehr glaubte er, dass die Tuberkulose nur geheilt werden könnte, wenn die Kur an einem hoch gelegenen, «immunen Ort» stattfand. Das waren Orte, an denen die Tuberkulose angeblich nicht vorkam. 39Diese Idee übernahmen die Promotoren der Höhenkur in den Schweizer Alpen.
Die diätetische Behandlung der Tuberkulose blieb auch im Zeitalter der Bakteriologie lange Zeit wichtig. Reichliche Ernährung, frische Luft und ein ausgewogenes Mass an Ruhe und Bewegung sollten die Abwehrkräfte stärken. Bei Weitem nicht bei jedem, der sich mit dem Tuberkulosebakterium angesteckt hatte, brach die Krankheit aus. 1888 formulierte dies ein Arzt im Correspondenz-Blatt folgendermassen: «Der Bazillus für sich allein macht ja bekanntlich noch keine Lungenschwindsucht, sonst wäre bei dessen Ubiquität nicht zu begreifen, weshalb wir nicht alle, samt und sonders, phthisisch werden sollten.» 40In der Tat war die sogenannte Durchseuchung damals äussert hoch. Dies zeigte eine Untersuchung Otto Naegelis (1871–1938) aus dem Jahr 1900. Anhand von 500 Sektionen am Pathologischen Institut Zürich kam er zum Schluss: «Jeder Erwachsene ist tuberkulös.» Dieses Resultat barg in Naegelis Augen jedoch Trost. Da erfahrungsgemäss nicht mehr als ein Siebtel bis ein Achtel der Menschen der Tuberkulose zum Opfer fallen würden, ergebe sich daraus, dass weitaus die Mehrzahl imstande sei, «den Kampf mit der Tuberkulose siegreich durchzuführen, und die Sturmflut der Bazillen durch die natürlichen Schutzwehren des Organismus einzudämmen und zur Ruhe zu bringen». Naegeli hatte bei 97 Prozent der von ihm sezierten Leichen tuberkulöse Veränderungen entdeckt. Daraus leitete Naegeli ab, dass der «Disposition» eine ungleich grössere Bedeutung als der Infektion zukam. 41Er definierte den Begriff Disposition als anatomisch-physiologische Konstitution, die erst dem Tuberkelbazillus den Boden gebe, auf dem er mit «höchst malignem Charakter um sich greift». 42
Ärztemacht und die Verbreitung von Ärztewissen
Mit dem Aufstieg der Medizin im 19. Jahrhundert erlangten die Ärzte zunehmend Definitionsmacht über Gesundheit und Krankheit. Gleichzeitig veränderte sich das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten. 43Der Arzt verkörperte um 1900 die Wissenschaft und vermochte nun anstelle von Ratschlägen Anordnungen zu erteilen. 44Elementar für diese Entwicklung war die Geburt der Krankenhaus-Medizin, welche die ärztliche Autorität institutionell durchsetzte. Um 1800 hatte sich dies noch anders verhalten: Den Ärzten mangelte es an Expertenautorität, die Klientel, also die Patienten, übten Kontrolle über das ärztliche Handeln aus. Zudem standen die Ärzte sozial unterhalb ihrer vornehmlich wohlhabenden Kunden und waren von diesen ökonomisch abhängig. 45Im Verlauf des 19. Jahrhunderts konnten sich immer mehr Menschen eine ärztliche Behandlung leisten. Der Markt für medizinische Dienstleistungen vergrösserte sich, obwohl für wirtschaftlich schlechtgestellte Bevölkerungsschichten der Arzt vielfach zu teuer blieb. 46Ein soziales Krankenversicherungssystem wie heute bestand nicht.
Die neue Rolle der Medizin im 19. Jahrhundert, wie ich sie geschildert habe, wäre ohne die Vermittlung des medizinischen Wissens durch Zeitungen, Zeitschriften und populäre Schriften nicht möglich geworden. 47Die Popularisierung von Wissenschaft und Technik erlebte im 19. Jahrhundert eine Blütezeit, wobei in Gesundheitsfragen Ärzte als Popularisatoren in Erscheinung traten. 48Medizinische Theorien gelangten so zu einem breiten Publikum. In Bezug auf die Leitfrage dieses Buches, warum sich die Höhenbehandlung der Lungentuberkulose durchsetzen und behaupten konnte, untersuche ich primär, wie sich medizinisches Wissen innerhalb des Kreises der Fachleute ausbreitete. Hatten sich die Ärzte nämlich einmal für eine bestimmte Behandlung entschieden, empfahlen sie diese den Patientinnen und Patienten. Das Handeln der Patienten reduzierte sich zusehends auf den Vollzug ärztlicher Anordnungen. 49Die Machtposition der Ärzte gegenüber ihren Patienten ist auch in der heutigen Medizin von strategischer Bedeutung: So ist es für die Pharmaindustrie entscheidend, die Ärzte mittels Rabatten, Honoraren für «Scheinstudien» oder Kongressteilnahmen für eine neue Therapie zu gewinnen. 50Auch für Promotoren der Theorie des heilenden Höhenklimas war es entscheidend, andere Ärzte von ihrer Theorie zu überzeugen. Die Ärzte entschieden vielfach, an welchen Kurort sich Kranke begeben sollten. Dies kommt in einem Artikel in der Kurortszeitung Davoser Blätter von 1876 zum Ausdruck. In diesem wird kritisiert, dass noch zu wenige Ärzte Kranke nach Davos schicken würden. Gemäss dem Artikel war es deshalb entscheidend, mehr Ärzte auf den Kurort aufmerksam zu machen. 51
Als Plattform für die Meinungsbildung boten sich Publikationen wie das Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte an, eine Fachzeitschrift, welche sich an Ärzte und Medizinwissenschaftler richtete. Ins Leben gerufen wurde sie 1871, kurz nach der Gründung des ärztlichen Centralvereins, vom Berner Professor Ernst Klebs (1834–1913). Dieser schrieb in der ersten Ausgabe, dass es Aufgabe der Zeitschrift sei, die «Beziehung zwischen den Vertretern ärztlichen Wissens und Handelns zu pflegen». 52Die Herausgeber wollten also zwischen universitärer Forschung und ärztlicher Praxis vermitteln. Eine Episode aus Flauberts Madame Bovary handelt davon, dass die Ärzte in die Praxis umzusetzen versuchten, was sie in Fachpublikationen gelesen haben: Homais, der Apotheker des Städtchens Yonville, hat «über eine vielgelobte Methode zur Heilung von Klumpfüssen gelesen». 53Er überzeugt nun Charles Bovary, mittlerweile Landarzt geworden, den klumpfüssigen Hippolyte zu operieren. Bovary führt die Operation mithilfe der Fachliteratur durch. Der Aufklärer Homais schreibt daraufhin im Fanal de Rouen: «Trotz der Vorurteile, die noch einen Teil Europas wie ein Netz überziehen, beginnt das Licht doch auch auf unsere ländlichen Gegenden zu fallen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz eines chirurgischen Eingriffs, der gleichzeitig auch ein Beispiel schönster Menschenliebe darstellt.» 54Doch die Lobeshymne des Apothekers ist verfrüht. Die Operation stellt keinen Erfolg dar, das operierte Bein muss schliesslich amputiert werden.
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