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Neues Kurhaus Dr. Brehmer, erbaut um 1875.
Die Patienten hatten in der Parkanlage seiner Kuranstalt langsam bergauf zu gehen und sich auf den Bänken auszuruhen. 29Insbesondere förderte er den Aufenthalt in der frischen Luft: «Der Patient sollte eigentlich fortwährend im Freien sein», forderte Brehmer. Gemäss Brehmer war es überdies entscheidend, dass die Therapie unter dem wachsamen Auge eines Arztes stattfand, insbesondere weil Lungenschwindsüchtige zu «Exzessen» neigen würden. 30Die Patienten sollten durch eine «richtige» Lebensweise genesen und lernen, sich von gesundheitsschädigenden Einflüssen fernzuhalten. 31Hermann Brehmer avancierte so zum Pionier der sogenannten Anstalts- oder Sanatoriumsbehandlung der Lungentuberkulose, die auf die Kontrolle der Patienten durch einen verständigen Arzt innerhalb einer Heilanstalt setzte und während mehrerer Jahrzehnte die Standardtherapie der Tuberkulosebehandlung darstellte. Der Therapieversuch des englischen Arztes George Bodington von 1840, der auf ähnlichen Behandlungsgrundsätzen beruhte, blieb hingegen ohne direkte Nachahmer. Bodington war mit seinen Anschauungen auf Ablehnung gestossen und hatte resigniert. 32
Zu Beginn fürchtete Brehmer, als Scharlatan bezeichnet zu werden, der die Heilung einer Krankheit versprach, die viele Ärzte als unheilbar betrachteten, wie er in der deutschen Ausgabe seiner Dissertation schrieb. 331869 kritisierte er rückwirkend, dass nur schon «der Versuch, die Lungenschwindsucht zu behandeln oder gar zu heilen, mit dem Anathema [Kirchenbann, Ächtung] der Scharlatanerie gebrandmarkt» worden sei. 34Doch so allein, wie er es verschiedentlich darstellte, stand er mit seinen Ansichten in Medizin und Wissenschaft nicht: So wurde er direkt nach dem Erscheinen seiner Dissertation 1853 an die Leopoldina, die deutsche Akademie der Naturforscher, berufen. 35Zudem hatte Brehmer wie erwähnt äusserst prominente Lehrer und Mentoren. In seinen Erörterungen bezog er sich auf Erkenntnisse namhafter Mediziner wie des Pathologen Carl von Rokitansky, der bereits vor ihm die Heilbarkeit der Tuberkulose beschrieben hatte. In seinen Publikationen konnte er seine Heilmethode mit Verweis auf zeitgenössische medizinische Studien begründen. Dies überzeugte andere Ärzte: Der Hannoveraner Mediziner Carl Flügge sandte ab 1859 regelmässig Tuberkulosekranke zu Brehmer nach Görbersdorf. Als diese in einem offenbar gebesserten Zustand zurückkehrten, wurden weitere Ärzte auf Brehmers Angebot aufmerksam. 36Der Aufenthalt in Görbersdorf, der oft mehrere Monate dauerte, dürfte wohl eine kräftigende Wirkung auf Patienten gehabt haben, was zwar nicht zu einer Heilung, aber zu einer vorübergehenden Besserung geführt haben mochte. Dies lässt sich aus Brehmers eigener Statistik von 1869 ablesen, die seine Erfolge dokumentieren sollte: Gemäss dieser wurden von 958 behandelten Lungenschwindsüchtigen 20 Prozent «dauernd» geheilt, bei einer durchschnittlichen Kurdauer von knapp drei Monaten. Brehmer beschrieb beispielsweise den Fall eines 24-jährigen Landwirts, der sich 15 Monate in der Anstalt behandeln liess: Dieser sei als «relativ gesund» entlassen worden und lebe noch, was einen Erfolg darstellen würde. 37Weitere, von Brehmer dokumentierte Krankengeschichten sollten zeigen, dass seine Behandlungsmethode auch «Triumphe» bei Patienten in vorgerückten Stadien der Krankheit feiern würde. Führte die Kur nicht zum Erfolg, lag dies hingegen nicht an der Therapiemethode: «Erreichen nicht alle Patienten diese Resultate, sind die Ursachen dafür meist in den Patienten selbst oder deren sozialen Verhältnissen zu suchen», schrieb Brehmer. 38Eine solche Argumentation, welche die Verantwortung für den Misserfolg der Therapie auf die Patienten abschiebt, benutzten später auch andere Tuberkuloseärzte. Als Folge des Zustroms von Patienten liess Brehmer von 1875 bis 1878 in Görbersdorf einen neuen, prächtigen Gebäudetrakt im gotischen Stil bauen. 39Auch andere Investoren wollten vom Renommee Görbersdorfs profitieren und eröffneten im Ort weitere Tuberkuloseheilanstalten. Görbersdorf entwickelte sich zu einem der wichtigsten Klimakurorte in Deutschland. In einer im Orell-Füssli-Verlag in Zürich 1882 erschienenen Broschüre über Brehmers Heilanstalt heisst es: Das anfänglich «so viel angefeindete oder gar verspottete Brehmer’sche Heilverfahren» sei heute «fast überall für die Behandlung des Leidens massgebend geworden». 40
Alexander von Humboldt und die therapeutische Entdeckung der Höhe
Im Rahmen der medizinischen Diskussion um die Behandlung der Lungentuberkulose war Brehmers Erfolg hauptsächlich zwei Faktoren geschuldet: Zum einen kam Brehmer zu Hilfe, dass sich seine Hypothese von hoch gelegenen, «immunen» Orten gut mit dem im Kapitel «Die gesunde Schweizer Alpenluft» geschilderten romantischen Bild der Alpen verbinden liess, gemäss dem die Berge Orte der Kraft und Gesundheit waren. Zum anderen übernahm er die bei Ärzten im 19. Jahrhundert populären Vorstellungen der Diätetik und knüpfte dabei an Beobachtungen von Naturforschern wie Alexander von Humboldt an. Die Historikerin Daniela Vaj hat gezeigt, wie entscheidend deren Texte für die Etablierung der Höhenkur der Tuberkulose waren. 41Sie weist in ihrem Aufsatz denn auch darauf hin, dass der therapeutische Gebrauch der Alpenluft und das Schicksal der Höhenkurorte nicht nur eine Folge der Promotionstätigkeit von Ärzten war, welche die Idee der Höhenkur verbreiteten. Vielmehr formulierten zahlreiche Ärzte und Gelehrte im Zeichen des Neo-Hippokratismus rund um den Globus in Studien die Hypothese der kurierenden Höhenluft. 42Zentral für diese Hypothese war anfänglich die Idee von immunen, angeblich tuberkulosefreien Orten. Die diesbezüglichen «Beobachtungen» waren zugleich Ausdruck persönlicher Vorstellungen wie auch empirischer Begebenheiten. 43Hermann Brehmer, der seine Heilanstalt im – mit rund 500 Meter über Meer vergleichsweise niedrig gelegenen – Bergland von Görbersdorf eröffnete, übernahm diese Idee und entwickelte davon ausgehend ein theoretisches Konzept zur Heilung der Tuberkulose. In seiner bereits erwähnten Studie von 1869, in der er das medizinische und geografische Wissen seiner Zeit breit rezipierte, erwähnte er verschiedene Orte, an denen die Tuberkulose offenbar nicht oder nur selten vorkam. Insbesondere verwies er auf die Seltenheit der Lungenschwindsucht in einigen hoch gelegenen Regionen: den Kordilleren in Peru, der Hochebene von Mexiko oder den höher gelegenen westlichen Regionen von Texas. 44Brehmer betonte aber, dass auch in gewissen Regionen Deutschlands die Tuberkulose ab einer gewissen Höhe nicht mehr vorkomme, und zwar bereits ab 1500 Fuss (457 Metern). 45Was die Lage von Görbersdorf anbelangte, gab er sich überzeugt, dass eine höhenbedingte Immunität vorliege. Als Grund für diese gegen Tuberkulose immunisierende Wirkung der Höhenlagen nannte Brehmer den mit zunehmender Höhe verminderten Luftdruck und dessen physiologische Auswirkungen. Auch aufgrund von Messungen am eigenen Körper stellte er fest, dass die Pulsfrequenz mit sinkendem Luftdruck zunahm. 46Diese Zunahme der Pulsfrequenz war gemäss Brehmer von entscheidender Bedeutung für den Heilungsprozess. Brehmer hielt die Tuberkulose nämlich für die Folge einer «Ernährungsstörung»: Aufgrund eines zu kleinen und schlaffen Herzens werde dem Körper «ein zu geringes Quantum an Ernährungsmaterial zugesendet», und die Ernährung des ganzen Körpers könne so keine normale sein. 47Eine Zunahme der Pulsfrequenz durch das Höhenklima wirkte dem nach Ansicht von Brehmer entgegen. 48Zudem werde so der Stoffwechsel gesteigert. 49Brehmers Erklärung der Höhenwirkung verweist auf das Wissensgebiet der Höhenphysiologie, das, wie später gezeigt wird, für die Begründung der heilsamen Wirkung des Höhenklimas zunehmend wichtiger wurde.
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