Bernhard Fresacher
Dr. theol. habil., Pädagogischer Referent im Katholischen Büro Mainz, Kommissariat der Bischöfe Rheinland-Pfalz, Titularprofessor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
Die Schrift täuscht darüber hinweg, wie fragil diese Bewegung tatsächlich ist. Schwarz auf weiß erweckt sie einen festen und sicheren Eindruck. De facto jedoch errichtet sie Hürden verschiedenster Art: Sie setzt die Fertigkeit des Lesens und das Interesse daran voraus. Sie basiert auf einer Sprache, die sich ständig verändert und sich von anderen Sprachen unterscheidet, und zwar in der Besonderheit des Verhältnisses von Muttersprache zu Fremdsprachen.
Dabei ist die Sprache mehr als eine Technik. Sie erzeugt einen Horizont des Welt- und des Selbstverstehens, in dem wir uns tagtäglich orientieren. Schon durch ihr Vokabular und ihre Grammatik legt sie eine Sicht in nicht hinter-fragter Selbstverständlichkeit nahe. In derselben Weise bietet sie zugleich die Möglichkeit, genau darauf zu achten, die Sicht sichtbar zu machen und das, was dahintersteckt. Dasselbe Medium, das für Selbstverständlichkeit sorgt, ermöglicht Hinterfragbarkeit, Reflexion, Relativität. Das Wort provoziert gerade auch in seiner schriftlichen Form eine Dynamik und eine Pluralität, die sich auf den ersten Blick hinter seiner buchstäblichen Eindeutigkeit verbergen.
Darin steckt theologische Brisanz. Denn ausgerechnet jenes Medium sucht sich das Wort Gottes, um zur Welt zu kommen. In dieser Sprache spricht Gott mit seinen Geschöpfen. Davon sind die monotheistischen Schriftreligionen überzeugt – auch wenn darunter bekanntlich verschiedene Auffassungen vertreten werden, was die Stellung dieses Mediums in der göttlichen Kommunikation betrifft. An der ausgesprochen fragilen Lage ändert sich dadurch nichts, sie verschärft sich vielmehr.
Aus der Geschichte wissen wir, welche Strategien zur Kontrolle und Steuerung der dadurch hervorgerufenen Dynamik und Pluralität eingesetzt wurden – und mit welchen Effekten. Die Reformation des 16. Jahrhunderts hat sich nicht zufällig am Lesen der Schrift entzündet. Es gab Zeiten, in denen Christen die Bibel verstecken mussten, um nicht der Häresie bezichtigt zu werden. Die Paradoxie besteht darin, dass man der Angst, dass das Wort beim Verstehen auf Abwege führen könnte, wiederum mit dem Wort begegnet: dem Wort der rechten Auslegung des Wortes. In dieser mehrfachen Ohnmachtslage entfaltet es seine Macht – zum Guten wie zum Bösen: Es kann Menschen bekehren, es kann Leben zerstören, immer in der Überzeugung, es recht verstanden zu haben.
ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL
Auf dem Hintergrund der geschilderten Kommunikationslage hat das Zweite Vatikanische Konzil eine Akzentverschiebung vollzogen, die dem modernen Verständnis Rechnung trägt, nämlich der Einsicht, dass es nicht genüge, auf die Mitteilung zu achten, sondern dass es vielmehr auf das Verstehen ankomme. Das Konzil greift dafür auf die Metaphorik der Resonanz zurück.
Gegenüber einer Fokussierung auf das richtige Verfahren zur authentischen Vermittlung überlieferter Glaubenswahrheiten in der Unterscheidung von Magisterium und Obödienz lenkt es die Aufmerksamkeit auf die Universalität der Resonanz des Evangeliums in der Welt von heute und konzipiert diese explizit auf gleichrangige Varietät anstatt auf Uniformität hin: Varietät und Universalität schließen sich nicht aus, sondern vielmehr ein (vgl. LG 22).
Darauf liegt der ekklesiologische Akzent, der dem Tun der Kirche, der „actio Ecclesiae“ (SC 7 und 10) eine Funktion in diesem göttlichen Geschehen zuschreibt: „damit die ganze Welt im Hören auf die Botschaft des Heiles glaubt, im Glauben hofft und in der Hoffnung liebt“ (DV 1, mit Referenz auf Augustinus). Darauf zielt die Schlüsselaussage: Die Kirche sei „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1).
Den Türöffner für das, was diesbezüglich in der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ ausgeführt ist, bildet die Liturgiekonstitution „Sacro-sanctum concilium“, insbesondere mit ihrem Konzept einer „aptatio variis in locis“ (vgl. insbesondere SC 37-40), einer Anpassung an die verschiedenen örtlichen Erfordernisse und Gebräuche (vgl. SC 128), der eine in örtlicher Verschiedenheit verfasste Kirche entspricht, „variae variis in locis ... institutae Ecclesiae“ (vgl. insbesondere LG 23-28). Seine Entfaltung findet dieses Konzept später in den beiden letzten Konstitutionen des Konzils, der Offenbarungskonstitution „Dei verbum“ und der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“. Die Resonanzmetaphorik taucht ausschließlich in diesen beiden Dokumenten auf, und zwar jeweils an prominenter Stelle: im Proömium der Pastoralkonstitution und im Artikel 8 der Offenbarungskonstitution. Theologische Brisanz gewinnt die Verwendung dieser Metaphorik dadurch, dass man diese beiden Textpassagen zusammenliest.
„Gaudium et spes“ beginnt mit dem vielzitierten Satz, der der Pastoralkonstitution ihren Namen gibt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrangten aller Art, sind auch (sunt … etiam) Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Junger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände (resonet)“ (GS 1). Dasselbe Verb „resonare“ taucht in der Offenbarungskonstitution – mit Referenz auf Kol 3,16 – wieder auf: „So ist Gott, der einst gesprochen hat, ohne Unterlass im Gesprach mit der Braut seines geliebten Sohnes, und der Heilige Geist, durch den die lebendige Stimme des Evangeliums in der Kirche und durch sie in der Welt widerhallt (resonat), führt die Gläubigen in alle Wahrheit ein und lässt das Wort Christi in Überfülle unter ihnen wohnen“ (DV 8). An anderen Stellen wird das Bild des Spiegels oder des reflektierenden Lichts verwendet: „veluti speculum« (DV 7) und „lumen repercussum“ (GS 40). Es knupft an die patristische Mond-Metaphorik an. Die BrautMetaphorik wird ahnlich gebraucht.
Liest man beide Textstellen zusammen, dann erkennt man, wie das Konzil die „actio Ecclesiae“ in der Moderne verortet, nämlich – im Sinn einer pneumatologischen Christologie – gleichsam als Resonanzkörper des Evangeliums in der Welt und der Welt in den Herzen der ChristusGläubigen. Beide Seiten sind aufeinander bezogen. In dieser „Ästhetik“ liegt der besondere „pastorale“ Ansatz des Zweiten Vatikanischen Konzils. Er verbietet die Unterscheidung von Kirche und Welt im Schema von innen und außen.
Gegenüber einer Unversehrtheit des Glaubensgutes hebt er den Gewinn eines transitorischen Prozesses hervor, in dem die Kirche sich im Hören („Dei verbum religiose audiens …“, DV 1, mit Referenz auf 1 Joh 1,2f.) sozial konstituiert, paradox formuliert: Dieselbe geht als eine andere daraus hervor. „Metanoia“ gehört zum Grunddatum christlicher Existenz. In diesem Sinn wäre auch das „sunt etiam“ der Pastoralkonstitution zu verstehen. Es bezeichnet keine Tautologie, sondern einen Transitus im Sinn des Geistes der Liturgie- und der Kirchenkonstitution: des „spiritus liturgicum“ (vgl. DV 7–10; GS 26; 28; 38; 41 und 44; vgl. ausführlicher Fresacher 2006; Fresacher 2010).
ÖKONOMIE DES EVANGELIUMS
Damit ist das Verhältnis von Glauben und Gesellschaft unter die veränderten Vorzeichen der Moderne gestellt. Die vertraute Pfingsterzählung gewinnt auf einmal einen neuen Klang. „Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kapadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden“ (Apg 2,7-11).
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