Auch wenn die Ekklesiologie insgesamt als wichtiges Thema der Lehre und Disziplin angesehen wird, das kommende Konzil in Fortführung des I. Vatikanums hier auch noch unerledigte Aufträge, vor allem hinsichtlich des Bischofsamtes zu erfüllen hat, ist doch die Gruppe derer, die angeregt durch die neuen theologischen Ansätze in Deutschland, Frankreich und Belgien und die Impulse der Katholischen Aktion, der Liturgischen Bewegung und anderer Bewegungen zu einem neuen ekklesiologischen Aufbruch drängen, eher klein. 268
Einige Vertreter dieser Linie finden sich etwa im niederländischen Episkopat. Hier hat in einem konfessionell gemischten und in vielen Teilen bereits säkularen Umfeld eine Rezeption der neuen theologischen Impulse aus den Nachbarländern bereits stattgefunden. Zudem werden weite Bereiche der Kirche durch ein hohes Engagement von Laien geprägt. 269So findet sich in der Rückmeldung des Erzbischofs von Utrecht, Bernard Alfrink, die Forderung nach der Aufnahme des „Volk Gottes“-Begriffs zur Beschreibung des Wesens der Kirche. Aus der Perspektive des „Volkes Gottes“ und der Teilhabe aller seiner Glieder am gemeinsamen Priestertum sollen die Aufgaben und Dienste der Laien in der Kirche neu bedacht werden. 270Auch in den Rückmeldungen der deutschen Bischöfe finden sich deutliche Hinweise auf eine neu zu beschreibende ekklesiologische Grundlegung, die sich an den Begriffen „Mysterium“ bzw. „Sakrament“ sowie einer Vielzahl anderer, u.a. „Volk Gottes“, ausrichtet. 271
Mit dem Motu Proprio „Superno Dei“ vom 5. Juni 1960 272leitet Papst Johannes XXIII. die vorbereitende Phase des Konzils ein. In ihm wird die Errichtung von 10 Sachkommissionen unter dem Vorsitz der jeweils zuständigen Kurienkardinäle festgelegt. Außerdem wird die Zentralkommission unter Vorsitz des Papstes, bzw. eines von ihm benannten Delegaten eingerichtet, zu der neben den Vorsitzenden der Sachkommissionen auch einige Kardinäle und Bischöfe des Weltepiskopats gehören. Der Theologischen Kommission (CT) 273unter der Leitung des Sekretärs des „Sacrum Officium“, Kardinal Alfredo Ottaviani, wird durch die Vorbereitungskommission die Behandlung des Themas „Kirche“ zugewiesen. Auf Anweisung Ottavianis fertigt der Sekretär der Kommission, der niederländische Jesuit Sebastian Tromp, Professor für Fundamentaltheologie an der Gregoriana und einer der Verfasser von „Mystici Corporis“, erste Skizzen für das zukünftige Schema „De ecclesia“ an. 274Die Unterkommission, die zur Vorbereitung des Schemas eingerichtet ist, tagt am 28. Oktober 1960 zum ersten Mal. 275Zu ihr gehört neben verschiedenen Vertretern der römischen neuscholastischen Schule 276auch Gerard Philips, der für die Ausarbeitung des Laienkapitels im Schema „De ecclesiae“ verantwortlich sein wird. 277Von den Mitgliedern, die eine Offenheit hinsichtlich der „nouvelle théologie“ zeigen, ist etwa Carlo Colombo, Professor an der theologischen Fakultät in Mailand und Vertrauter Kardinal Giovanni Battista Montinis zu nennen, zudem der niederländische Jesuit Johannes Witte, der schließlich Yves Congar zur Studienwoche der Unterkommission vom 15.-23. November 1961 einlädt. 278Congar hatte bereits im September 1960 ein Memorandum zu den Vorentwürfen der Schemata verfasst, ihren defensiven, apologetischen Geist bemängelt sowie eine neue, missionarisch-heilsgeschichtliche Sicht auf die Kirche vorgeschlagen. 279Zum Zeitpunkt seiner Mitwirkung in der Unterkommission steht diese allerdings bereits unter hohem Zeitdruck. Die fertigen Entwürfe sollen im Februar 1962 an die Koordinierungskommission weitergegeben werden. Das Tagebuch Tromps vermittelt den Eindruck einer teilweise hektischen und unkoordinierten Arbeit der „De ecclesia“-Arbeitsgruppe, die zudem durch ständige personelle Veränderungen erschwert wird. 280Der Endentwurf ist daher in Inhalt und Aufbau wesentlich Tromp zuzuschreiben, der u.a. für die Schlussfassung des ersten Kapitels zum Wesen der Kirche verantwortlich ist. 281
„De ecclesia“ 282beginnt im ersten Kapitel „De ecclesia militantis natura“ mit einem Prolog, der die Kirche mit dem Heilswirken Gottes in Christus in Verbindung bringt. Christus, der sich selbst als reines Opfer dem Vater darbringt, reinigt und heiligt sein Volk, das durch den Ratschluss des Vaters aus der Vielzahl der Völker als königliche Priesterschaft und neues Israel (1 Petr 2, 9–10) erwählt wurde (Nr. 1). Der zweite Artikel beginnt mit der Ausführung des Heilsplans: Christus, der als „neuer Adam“ zum Haupt der Menschheit eingesetzt ist, als Priester, König und Prophet über das „Volk Gottes“ regiert und es heiligt, setzt die Vorsteher unter der Leitung des Petrus ein, damit das Volk nicht in Verwirrung gerät und als dichtgefügte Heerschar („agmen“) in Einheit für alle Ewigkeit zusammensteht (Nr. 2). So wie Mose das Volk durch die Wüste geführt hat, führt Christus die Kirche auf ihrem irdischen Weg der Vollendung entgegen (Nr. 3). Auch hierfür nennt das Schema die Notwendigkeit des Petrusdienstes. Es verweist zusätzlich auf andere biblische Bilder (u.a. „Reich Gottes“, „Haus Gottes“, „Herde“, „Schafstall“) um dann in Nr. 4 das Bild des „mystischen Leibes Christi“ im Sinne von „Mystici Corporis“ 283als das wichtigste zu bestimmen und näher auszuführen (Nr. 5–7). Der „Volk Gottes“-Begriff wird in Kapitel VI über die Laien wieder aufgenommen. Hier spricht das Schema über die Berufung der Laien zum Volk Gottes, ihre Zusammenarbeit mit dem Klerus (Nr. 20) sowie die Teilhabe am gemeinsamen Priestertum (Nr. 21). 284Zudem wird eine Definition der Laien gegeben: Sie sind die Mitglieder der Kirche, die durch die Taufe zum „Volk Gottes“ gehören, in der Welt zu Hause sind, nach den Regeln des christlichen Lebens leben und nicht zum Weihe- oder Ordensstand gehören (Nr. 22). 285
Insbesondere im ersten Abschnitt des Schemas erscheint das „Volk Gottes“ als „passive Größe, das die Gnaden der Erlösung durch die kirchlichen Vorgesetzten erfährt“ 286. Die heilsrelevanten Funktionen werden den Amtsträgern zugeschrieben. 287In einer generell eher gesellschaftlich-juridischen Sicht der Kirche sind die heilsgeschichtlichen Anklänge in Nr. 1–2 kaum hörbar. Ebenso kommt die in Nr. 4 erwähnte Vielzahl biblischer Metaphern für die Kirche unter der Dominanz des „Leib Christi“-Bildes nicht zur Geltung. Das Kapitel über die Laien stellt sowohl dem Inhalt als auch dem theologischen Ansatz nach eine gewisse Neuerung dar. 288Trotz der Bemühungen um eine positive Bestimmung des Laienstandes und der Aufnahme des „Volk Gottes“-Begriffs, um die Gemeinschaft der Gläubigen zu beschreiben, geht „De ecclesia“ dennoch insgesamt von einer Unterordnung der Laien unter das geistliche Amt aus. 289
Das Schema „De ecclesia“ trägt maßgeblich die Handschrift der römischen Schultheologen. Es orientiert sich in besonderer Weise an den ekklesiologischen und apologetischen Lehrschriften der vergangenen Jahrzehnte, vor allem an „Mystici Corporis“. 290Das Schema ist von Beginn an umstritten. Parallel zur Arbeit der Unterkommissionen erarbeitet das Sekretariat für die Einheit der Christen unter der Leitung Kardinal Augustin Beas eigene Gutachten zu zentralen Fragen des Konzils unter ökumenischem Gesichtspunkt. In den Texten des Einheitssekretariats findet sich, auch begünstigt durch die personelle Zusammensetzung 291dieser Einrichtung, ein alternativer, stärker biblisch fundierter, heilsgeschichtlicher und dialogoffener theologischer Ansatz. 292Der im April 1962 erarbeite Text zum Thema „Kirche“ spricht von dieser als „Mysterium“ und „Volk Gottes“ in der heilsgeschichtlichen Kontinuität zu Israel, das sich in der Kraft des Heiligen Geistes auf dem Weg zur Vollendung befindet. Mit Blick auf den ökumenischen Dialog geht das Dokument von einer bereits in der Taufe gelegten fundamentalen Einheit der Christen aus, die in den Charismen und Ämtern ihren strukturellen Ausdruck findet. 293In einer Stellungnahme zum Thema der Laien äußert sich das Einheitssekretariat zudem zugunsten einer positiven Neubewertung des gemeinsamen Priestertums als ein „wahres“ und nicht bloß metaphorisches Priestertum. 294
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