Mit diesem Panorama der aktuellen Herausforderungen umreißt Daniélou die Methodik eines neuen Stils der Theologie, der sich ab den 1930er Jahren in Frankreich langsam und z.T. unter argwöhnischer Beobachtung durch das Lehramt etabliert. Diese „nouvelle théologie“ zeichnet aus: die kritische Auseinandersetzung mit dem Neuthomismus, mit der modernen Philosophie und den anderen christlichen Konfessionen, die Wiederbelebung des (heils-)geschichtlichen Denkens, die Erforschung der biblischen, patristischen und mittelalterlichen Quellen des Glaubens. 161Die „neue Theologie“ etabliert sich vor allem an zwei Orten: Im jesuitischen Scholastikat Fourvière bei Lyon lehren und lernen etwa Henri de Lubac, Jean Daniélou und Hans Urs von Balthasar, in der Dominikanerhochschule von Le Saulchoir (zunächst in Kain-lez-Tournai, Belgien, ab 1937 in der Nähe von Paris) u.a. Marie-Dominique Chenu, Henri-Marie Féret und Yves Congar. 162Zu einem weiteren Ort der theologischen Erneuerung entwickelt sich nach dem 2. Weltkrieg zudem die Katholische Universität Löwen in Belgien. Léon-Joseph Suenens, der spätere Erzbischof von Mechelen, übernimmt 1940 das Amt des Vize-Rektors der Universität. 163In seiner Amtszeit, die zur Besatzungszeit eher politisch orientiert ist, bildet er einen theologischen Zirkel, zu dem u.a. Lucien Cerfaux 164, Gerard Philips und Gustave Thils gehören. 165Zusammen mit Suenens’ Studienfreunden André Charue und Emile De Smendt, den späteren Bischöfen von Namur und Brügge wird diese belgische Gruppe entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Kirchenkonstitution und die Verankerung des „Volk Gottes“-Begriffs in ihr nehmen.
Ohne an dieser Stelle näher auf die Leistungen der Hauptvertreter der „nouvelle théologie“ im ekklesiologischen Diskurs der Vorkonzilszeit einzugehen 166, kann der Stand der Forschung Ende der 50er Jahre, Gustave Thils folgend, in dieser Weise zusammengefasst werden 167: Die Ekklesiologie profitiert von der Erschließung der theologischen Grundlagen und vom ökumenischen Dialog (94). Sie überwindet so ihren seit der Reformation kultivierten apologetischen Grundton und konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: die innere, gnadenhafte Dimension der Kirche und ihre gemeinschaftliche, soziale Dimension. In diesem Zusammenhang stehen auch das hierarchische Amt und die sichtbare Struktur der Kirche in der Diskussion (95). „Leib Christi“ gilt als bevorzugte Lehrformel einer ganzen Generation, da sie etwa die Verbindung Christi und der Kirche beschreibt und zu einer Neubewertung des Beitrags aller Glieder des Leibes, also auch der Laien, anregt (96). Daneben hat sich in der systematischen Betrachtung der Kirche eine eher biblisch und geistlich inspirierte Ekklesiologie unter dem Leitmotiv des „Reiches Gottes“ etabliert (96f). Deutlich tritt jedoch auch die Lehre vom „Volk Gottes“ hervor, die „zur thematischen Synthese der zweiten Hälfte des Jahrhunderts werden könnte“ (96). Der Begriff ist, so Thils, deshalb geeignet, weil er biblisch begründet ist, die sichtbare Seite der Kirche betont und zudem den heilsgeschichtlichen Charakter der Kirche hervorhebt. Darüber hinaus lässt sich mit ihm auch die aktive Teilnahme aller Gläubigen gut bestimmen (96). Es dürfte allerdings, so die Einschätzung des belgischen Theologen, schwierig werden, die Ekklesiologie von einem biblischen Begriff alleine aus aufzubauen. Möglicherweise bietet sich seiner Ansicht nach das theologische Konzept der „Sakramentalität“ für eine theologische Synthese an (97), außerdem sind die Universalität, Katholizität und die missionarische Sendung der Kirche unter den Bedingungen der modernen Welt neu zu bedenken (97ff).
In dieser kurzen Zusammenfassung zeigt sich die Aufnahme und Weiterentwicklung der ekklesiologischen Diskussion seit den 40er Jahren, wie sie sich im französischen Sprachraum darstellt. Thils, der in der Lehre von der Kirche die zentrale theologische Frage des 20. Jahrhunderts sieht, verweist jedoch, ähnlich wie Daniélou, auf die Notwendigkeit einer Ergänzung der Ekklesiologie durch die christliche Anthropologie. So ist die Frage nach der Bedeutung des einzelnen Gläubigen für ihn von zentraler Bedeutung (113): Man könne in der Diskussion der sichtbaren Seite der Kirche nicht beim hierarchischen Amt stehenbleiben, sondern müsse den Ort und die Bedeutung aller Getauften bestimmen. So gehe es um die Neubewertung des Sakraments der Taufe, das Priestertum der Gläubigen, die tätige Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie und den Weltbezug des Menschen (113). Das Laientum und die Suche nach einer Theologie des Laientums spielt insbesondere im französischsprachigen Raum eine herausragende Rolle und wird für die spätere Erarbeitung von „Lumen gentium“ von entscheidender Bedeutung sein.
1.3.1 Theologie des Laientums
Ähnlich wie in Deutschland die Jugendbewegung und die liturgische Bewegung Ausgangspunkte einer erneuerten Ekklesiologie sind, ist dies für Frankreich und Belgien die Katholische Aktion. Diese maßgeblich durch Pius XI. geförderte Bewegung hatte das Ziel, die katholischen Laien zum aktiven Glaubenszeugnis in allen Bereichen der modernen Welt zu ermutigen. 168Unter dem Dachverband der „Französischen Katholischen Aktion“ finden sich in den 1950er Jahren ca. 80 verschiedene Verbände, unter denen vor allem die Jugendverbände an Mitgliederzahl und Bedeutung herausragen. 169Zu ihrem Programm gehören die geistliche Vertiefung durch das Evangelium, die Einladung zu einer innerlichen Spiritualität, die Liebe zur Kirche und das soziale Engagement. 170Im Bemühen, Glauben und Leben zusammenzusehen und aktiv an der modernen Welt teilzuhaben, entsteht zum einen das Bedürfnis nach einer angemessenen Laienspiritualität, zum anderen ein neues Selbstbewusstsein der Laien. Am Prinzip der Leitung der Katholischen Aktion durch den Klerus, die in den Mitgliedern eher Helferinnen und Helfer der Bischöfe und Priester sieht, entzündet sich zunehmend Kritik. 171Deutlich artikuliert diese etwa Hans Urs von Balthasar, wenn er die Grundidee der Katholischen Aktion als Verlängerung der Hierarchie in die Welt hinein bezeichnet. 172Eine äußerliche Delegation der Laien reiche nicht aus. Vielmehr müssten diese einen neuen mitverantwortlichen Ort in der Kirche finden, der sich etwa vom „allgemeinen Priestertum“ ableiten lässt. 173Gegen das Bild des Priesters als Fachmann in Glaubensfragen und des Laien als Fachmann in Fragen der Welt setzt Balthasar die Forderung nach einer Glaubensvertiefung und kontemplativen Befähigung der Laien, damit sie durch ihre persönliche Heiligkeit wirksam in der Welt tätig sein können. 174Es geht ihm um ein Aufbrechen einer klerikalen Verengung der Kirche, um ein „Anrücken gegen Westen, gegen Rom des Eisernen Vorhangs, hinter welchem die Kirche als klerikale Institution unerbittlich vernichtet wird.“ 1751954 attestiert von Balthasar „die Stunde der Laien“, die sich im Aufbruch der katholischen Bewegungen und in der Entstehung der geistlichen Laiengemeinschaften zeige. 176Eine neue Form des christlichen Apostolats formiere sich, durch das sich die Kirche neu in der Welt inkarnieren könne. Dazu müsse sie bereit sein, ihren Standort zu ändern, die Bastionen zu schleifen und in die sich ständig wandelnde Welt hinauszutreten. 177Die Laien übernehmen dabei eine wichtige Rolle. Sie verkörpern, so Balthasar, in ihrem Glauben und Engagement gewissermaßen die marianische Dimension der Kirche (Gehorsam gegenüber Christus, Heiligung, innerliche Spiritualität) gegenüber der petrinischen (hierarchisch, gesellschaftlich strukturiert). 178
Ein bedeutender Förderer einer in diesem Sinn erneuerten Laienspiritualität 179und Vertiefung der apostolischen Sendung der Laien ist Kardinal Suenens. Schon in seiner Zeit als Vizerektor in Löwen gründet er das „Institut supérior des sciences religieuses“ zur theologischen Ausbildung der Laien, dessen Leiter Lucien Cerfaux wird. Gustave Thils und Charles Moeller gehören zu den ersten Dozenten. 180Suenens nähert sich in seiner Zeit als Weihbischof von Mechelen der Laienbewegung „Legio Mariae“ an, die sich durch ihr Apostolat an den Rändern der Gesellschaft auszeichnet. 181Er bemüht sich um die Förderung der Legio in Belgien und verfasst auf Bitten führender Vertreter der Bewegung 182eine theologische Grundlegung ihrer Tätigkeit, in der er neu die Bedeutung des Heiligen Geistes für die Kirche und das lebendige Apostolat der Gläubigen hervorhebt. 1831956 erscheint „L’Eglise en état de mission“, eine Ermutigung zur Neuverkündigung des Evangeliums unter den Bedingungen der modernen Welt. 184In diesem Werk geht es u.a. um die Notwendigkeit des Apostolats von Priestern und Laien auf der Basis des gemeinsamen Priestertums und ihrer gemeinsamen Gliedschaft im „Leib Christi“. 185Als Getaufte, Gläubige und von Gott Berufene seien, so Suenens, alle Glieder der Kirche in das Verkündigungshandeln der Kirche gleichermaßen einzubeziehen. 186Ein Itinerar zeitgemäßer Laien-Spiritualität entwickelt Kardinal Suenens in einer Serie von Radioansprachen aus dem Jahr 1961. Ein gemeinschaftlich gelebtes Christentum von Priestern und Laien wird für die Zukunft der Kirche entscheidend sein:
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