„So ist die einmal erworbene soziale Mitgift auch dann präsent, wenn in späteren Lebensphasen die Milieuzusammenhänge ‚gewählt’, neue soziale Beziehungen aufgebaut und Lebensentwürfe entwickelt und umgesetzt werden. […] Der Habitus entsteht also in einem bestimmten Milieu, aber er tendiert auch dazu, sich wieder ein Milieu zu suchen und zu schaffen, das seinen Neigungen und Gewohnheiten am ehesten entspricht. […] Da der Habitus also nicht einfach vom Himmel fällt, sondern sich in einem längeren biographischen Prozess entwickelt, ist klar, dass er nicht ad-hoc, sondern nur über anstrengende und zeitraubende Arbeit verändert werden kann.“ 19
Es geht also um Prozesse des Ver-lernens und Um-lernens, und das im hier zur Debatte stehenden Fall im Kontext einer Organisation, die Meisterin im Schaffen von inneren und äußeren Traditionen ist. Da besteht durchaus die Gefahr, dass die Organisation Kirche, die theologisch strikt Mittel, nicht Zweck ist, unter der Hand sich selbst zum Zweck erhebt, indem sie ihren Selbsterhalt inszeniert. Bourdieu spitzt es organisationskritisch wie folgt zu:
„Der von der Institution organisierte Glaube (an Gott, an das Dogma usw.) kaschiert tendenziell den Glauben in die Institution, das obsequium, sowie alle an die Reproduktion der Institution gebundenen Interessen.“ 20
Die Botschaften der Institution wirken – sie wirken gerade auch in ihrer Widersprüchlichkeit, so z. B. Botschaften an Priester. Da wird dem ordinierten Amtsträger einerseits von ihrem Bischof gesagt, er solle mit den Leuten in den Gemeinden partnerschaftlich und respektvoll umgehen, denn sie alle seien Berufene und von Gott mit Talenten Ausgestattete. Andererseits wird von Rom 1997 die restriktive „Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester“ 21veröffentlicht. Oder den Ordinierten wird zum „Jahr des Priesters“ 2009 im Papstbrief das Bild des Pfarrers von Ars vor Augen geführt. Der Priester des 3. Jahrtausends liest Sätze wie: „Nach Gott ist der Priester alles!“ 22Welcher Habitus soll da nun eigentlich gestützt werden?
Im kirchlichen Alltag wirken divergierende kirchlich-systemische Habitus-Konzepte ebenso wie biographisch erworbene je subjektive Haltungen kirchlicher MitarbeiterInnen. Zu rechnen ist in der Praxis durchaus mit Habitus-Konzepten, die wenig Ambiguitäts-Toleranz aufweisen, z. B. in den Beziehungssystemen: Kleriker – Nichtkleriker; professionelle Gemeindereferentin – nichtprofessionelle Ehrenamtliche; Erneuerer – Bewahrer. Gemein ist diesen Habitus, dass sie stark abgrenzend und absichernd sind. Sie stehen damit tendenziell einer Beziehung im Wege, die offen ist für Überraschungen, auch für Überraschungen des Evangeliums. Mit Blick auf ein Label wie „Verantwortung teilen“ sind demnach strategische Entscheidungen nötig, welche Habitus langfristig implementiert werden sollen – und wie demgemäß dann eine konsequente Kulturarbeit in Gestalt von Begleitung und Schulung für freiwillig wie beruflich in Kirche Engagierte auszusehen hat. Diese Entscheidung wurde durch das Bistum Aachen im Sinne der oben aufgeführten inhaltlichen Linien getroffen. Sie schlägt sich im Curriculum des Bildungsprogramms konkret im „Modul II – Pastorale Entwicklung (an-)leiten“ nieder. 23
(b) Hieraus leitet sich die zweite strategische Funktion des Projekts für das Bistum ab. Diese betrifft ganz allgemein formuliert das Verhältnis von freiwillig in der Kirche Engagierten und beruflich Tätigen oder Beauftragten. Vor dem Hintergrund der pastoralen Räume und des Projekts „Verantwortung teilen“ wird dieses Verhältnis operativ aufgegriffen als Verhältnis von den im Synodalgremium des pastoralen Raums freiwillig engagierten Mandatsträgerinnen und -trägern einerseits und den vom Bischof eingesetzten Seelsorgerinnen und Seelsorgern (Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeindereferenten und -referentinnen) andererseits. Sie sind im synodalen „Rat der Gemeinschaft der Gemeinden“ konstitutiv aufeinander verwiesen. Analog verhält es sich mit den Akteuren, die in den besonderen Pfarrei-Leitungsformen des Aachener Bistums tätig sind.
Für Rainer Bucher sind „Hauptamt-Ehrenamt“ und „Kleriker-Laien“ zwei der aktuell am heftigsten ins Wanken gekommenen Beziehungs-Balancen in der katholischen Kirche. 24Sowohl die Kleriker – „Niemanden trifft der reale Zusammenbruch klerikaler Machtstrukturen auf Grund der Freisetzung zu religiöser Selbstbestimmung härter als die Priester“ – als auch die Laien – „Heute herrscht nicht mehr die Religion über das Leben, sondern biografische Bedürfnisse über Nähe und Distanz zu religiösen Praktiken und Sozialräumen. Mit diesem epochalen Machtwechsel rücken die sogenannten Laien in den Fokus. Denn sie erhalten die enorme „Marktmacht der Kunden“ – finden sich in einer gewöhnungsbedürftigen Rollenkonstellation vor. 25
Diese Konstellation ist darüber hinaus verwoben und in ihrer Standfestigkeit zusätzlich beeinträchtigt durch die Hauptamt-Ehrenamt-Polarität. „Die Ehrenamtlichen sind das Andere des professionellen Systems. Für Profis sind alle anderen eben zuerst einmal Nicht-Profis […]. Die Hauptamtlichen stehen ihnen zudem gegenwärtig in einer merkwürdigen Mischung aus Überlegenheit und Abhängigkeit gegenüber.“ 26An dieser Stelle soll zum „neuen Ehrenamt“ nur so viel gesagt werden: Die „Marktposition“ der Ressource des freiwilligen Engagements steigt enorm in einer gesellschaftlichen Situation, in der viele Initiativen, Großorganisationen und Körperschaften um sie werben. Von Kommunen bis zu Sportvereinen, von Kirchen bis zu Verbänden der freien Wohlfahrt, von Stadtteilinitiativen bis zu Parteien und Gewerkschaften – alle sind erpicht darauf, diese Ressource „anzuzapfen“. Das vielfältige freiwillige Engagement in der Flüchtlingshilfe ist dafür das beste Beispiel. Insofern spricht Bucher zu Recht von „Abhängigkeit“. Im Kontext Kirche ist wichtig: Die Menschen, um die es hier geht, sind nicht zuerst potenzielle Ehrenamtliche, sondern erst einmal und vor allem Glieder des Volkes Gottes. Jede/r von ihnen hat eine individuelle Berufung durch Gott (GS 3). Wie ihre hauptamtlichen Partnerinnen und Partner sind sie fundamental berufen zur Pastoral in Zeit und Welt.
Die Fortbildungspraxis im Bistum Aachen ist wie vielerorts von einer weitgehenden Separierung des Lernens von Hauptberuflichen hier und Ehrenamtlichen dort geprägt. Das liegt teilweise an praktischen Gründen wie den unterschiedlichen Zeitkorridoren. Das hat auch inhaltlich berechtigte Gründe, da manche Inhalte in der Tat gewinnbringender nicht in „Koedukation“ zu lernen sind. Der Effekt verkehrt sich allerdings dort ins Gegenteil, wo Gruppen mit hoher Verantwortung wie z. B. die Vorstände des Synodalgremiums auf Ebene des pastoralen Raumes, das „Planungs- und Entscheidungsorgan in allen grundlegenden Fragen der Pastoral“ (Satzung, § 3, 1) ist, nicht systematisch gemeinschaftlich trainiert und geschult werden. Das Projekt „Verantwortung teilen“ geht dieses Desiderat offensiv an und erklärt diese gemischten Teams zur Kernzielgruppe seines Bildungsprogramms.
Da das Projekt in der Hauptabteilung Pastoral/Schule/Bildung („Seelsorgeamt“) angesiedelt ist, wird von Anfang an die Kooperation mit der Nachbarhauptabteilung „Pastoralpersonal“ gesucht. Das Bildungscurriculum wird gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Fortbildung für die pastoralen Dienste entwickelt. Wenn auch die konkret durch die Bildungsmaßnahmen angesprochene Zielgruppe fest umrissen und damit begrenzt ist, so hat das Projekt dennoch den Anspruch, paradigmatisch zu lernen. Es soll vor dem Hintergrund der Gesamt- pastoralentwicklung des Bistums einerseits Lernimpulse in andere Bereiche der Pastoral geben, z. B. die Pastoral im Feld des Gesundheitswesens, die angesichts von Herausforderungen wie Seelsorge-Nachtrufbereitschaft in Krankenhäusern oder Hospizdienste ebenso neue Wege mit freiwillig Engagierten gehen muss und teilweise schon geht. Andererseits ist „Verantwortung teilen“ offen, von Anderen zu lernen, z. B. von den bewährten Schulungs- und Begleitkonzepten der Telefon- und Notfallseelsorge.
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