„Nur wo das Subjektsein aller in der Kirche, nur wo die Angewiesenheit auch jener, die Charismen zu beurteilen haben, auf die Charismen anderer, jener, die Dienste zu ordnen haben, auf diese Dienste und jener, die zu verkünden haben, auf den ‚produktiven‘ Glauben anderer zur Geltung kommt, ist das Maß von Communio eingelöst.“ 5
Teilhabe am Ganzen meint eben nicht die Inanspruchnahme eines Stückes vom Kuchen als Eigenes, „vielmehr ist das Ganze in jedem und ist jeder im anderen, und die Weise, wie das Ganze im Einzelnen enthalten ist, und das Einzelne dem anderen das Ganze auf je seine Weise schenkt, ist maßgeblich“ 6. Aus genau dieser konstitutiven wechselseitigen Ergänzungsbedürftigkeit erwächst die Wahl von „Verantwortung teilen“ zum Projekttitel. Es geht nicht darum, die unabtretbare subjektive Verantwortung zu schmälern oder sich davon zu dispensieren. Es geht vielmehr darum, dass Alle ihre je persönliche Verantwortung als ganze und ungeteilte dann dennoch so mit den Anderen in Kontakt bringen, dass, ohne dass etwas von dem Einzelnen verloren ginge, sich darin für Alle das Ganze tiefer erschließt und eine ermergente Qualität aufscheint.
1.2 PLURALE PASTORAL
Weggemeinschaft ist für Hemmerle die Sache und Methode eines neuen Denkens. Der Inhalt und die Vermittlung des Inhalts gehören für ihn untrennbar zusammen. Hemmerles Nachfolger im Bischofsamt, Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff (1995 bis 2015), führte den Weggemeinschafts-Gedanken auf seine Art fort. Als ein Bischof, der gerne und viel mit Partnern aus dem christlich-jüdischen und dem interreligiösen Dialog zusammen war, lag ihm jede Verengung fern. Er warb für eine katholische Weite, die er besonders auch durch die in Aachen ansässigen Werke MISEREOR, missio und Kindermissionswerk repräsentiert sah. Bischof Mussinghoff war zu keiner Zeit für einen Rückzug auf die kirchliche Sozialgestalt der Pfarrei zu haben. Ihm war die Pluralität kirchlicher Präsenzformen heilig. Neben klassischen kategorialen Seelsorgefeldern wie der Krankenhaus-, JVA-, Hochschul-oder Behindertenseelsorge fielen in seine Amtszeit der Ausbau von Citypastoral und Trauerpastoral, Hospizarbeit und Seelsorge in der Arbeitswelt. Im neuen Nationalpark Eifel wurde ebenso eine Nationalparkseelsorge eingerichtet wie aktuell für den neuen Campus der Aachener RWTH-Universität eine kirchliche Präsenz in Planung ist.
1.3 SYNODALE KIRCHE
Schon die frühere Satzung für die Pfarrgemeinderäte im Bistum Aachen sprach davon, dass der PGR teil an der Gemeindeleitung habe. Der Wert synodalen Miteinander-auf-dem-Weg-seins hat Tradition im Bistum. Dabei ist die Synodalität durchaus umstritten, vor allem wenn es konkret wird in der Frage, wer was wann entscheiden soll und darf. Zu dieser auch fünfzig Jahre nach dem Konzil noch bestehenden Spannung gehört ein in Lumen Gentium 12 angelegter Konflikt, den Jochen Hilberath so beschreibt:
„Wenn das Volk Gottes mit Hilfe des Geistes in den überlieferten Glauben ‚mit rechtem Urteil tiefer eindringt und ihn im Leben voller anwendet‘ (LG 12), dann braucht es in der Kirche Kommunikationssituationen und Verfahrensweisen, damit das Bemühen um einen consensus fidelium aus dem sensus fidei heraus möglich und fruchtbar wird.“ 7
Eine Kirche, in der das Volk Gottes im ernsten Sinne des Wortes am Weg partizipiert, mutiert zwangsläufig vom erratischen Block zu einer „fließenderen“ Form. 8
1.4 BESONDERE FORMEN DER LEITUNG
Aus der Grundsympathie für eine partizipativ angelegte Pastoral entstehen im Bistum Aachen zwei besondere Formen der Leitung der Pfarrei. 9Seit 1993 wird in einer begrenzten Zahl von Fällen die Leitung der Pfarrei nach c. 517 § 2 CIC/1983 praktiziert. Von der Anwendung dieses Kanons kann der Diözesanbischof bei Priestermangel Gebrauch machen. Er kann dann andere Personen an der Wahrnehmung der Seelsorgsaufgaben beteiligen und muss ihnen einen Priester, der nicht kanonisch ernannter Pfarrer ist, als sogenannten „Moderator der Seelsorge“ an die Seite stellen. Anders als andere Bistümer in Deutschland beauftragt das Bistum Aachen nie Einzelpersonen und keine Hauptberuflichen. Beauftragt werden vielmehr kleine Gruppen freiwillig Engagierter aus der Pfarrei. Damit wird deutlich, dass dieser Kanon auch nur Anwendung finden kann, wenn die Pfarrei schon vorher wesentlich von ehrenamtlichem Engagement getragen ist und insofern die Ressource von Freiwilligen reichhaltig vorhanden ist. Dem mit der Pfarreileitung nach c. 517 § 2 CIC/1983 beauftragten Freiwilligen sowie dem bestellten moderierenden Priester wird dann aus dem Pastoralteam des pastoralen Raums ein pastoraler Mitarbeiter/eine pastorale MitarbeiterIn, meistens Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten, als professionelle Begleitung mit einem bestimmten Beschäftigungsumfang an die Seite gestellt. Ein zweites besonderes Leitungsmodell ist als diözesanes Recht verankert und verdankt sich dem ersten Bistumstag 1996. Es ist das Modell „Gemeindeleitung in Gemeinschaft“ aus dem Jahr 1998, das ebenfalls eine erweiterte Pfarreileitung vorsieht, in diesem Fall aber bei vorhandenem kanonisch ernannten Pfarrer. Hier leiten vom Pfarreirat gewählte und vom Bischof beauftragte Ehrenamtliche zusammen mit Mitgliedern des Pastoralteams und dem Pfarrer die Pfarrei. Die Leitung erfolgt gemeinschaftlich, was nicht heißt, dass alle Rollen verschwimmen.
Beide Wege sind anspruchsvoll und erfordern viel Kommunikation und Koordination. Von daher verwundert nicht, dass die Modelle nur in einer begrenzten Zahl von Pfarreien des Bistums Anwendung finden, zur Zeit aktuell in vier (Pfarreileitung nach c. 517 § 2 CIC/1983) bzw. drei (Pfarreileitung nach „Gemeindeleitung in Gemeinschaft“) Pfarreien.
1.5 NEUORDNUNG DER PASTORALEN RÄUME
Diese besonderen Leitungsformen für einzelne Pfarreien sind eingebettet in das seit 2000 verfolgte Konzept neuer pastoraler Räume. Wie in den meisten deutschen Diözesen hat es Strukturanpassungen aus Anlass des Priestermangels und wegen der veränderten Zugehensweisen der Menschen auf Kirche gegeben. So ist das Bistum Aachen aktuell in 71 pastorale Räume eingeteilt, die zwischen 7.000 und 25.000 Katholiken umfassen. 27 dieser Räume bestehen nach umfassenden Fusionsprozessen in der Rechtsform einer Pfarrei. Die anderen Räume bestehen aus 2 bis 19 selbständig existierenden Pfarreien, vor allem im ländlichen Raum. Für die pastoralen Räume hat der Bischof erstmals 2005 pastorale Leitlinien erlassen, die 2011 in revidierter Form bestätigt wurden. 10
Alle 71 Gemeinschaften der Gemeinden haben parallel zu diesen Prozessen der Strukturanpassung erstmals ein „Pastoralkonzept“ für ihren pastoralen Raum erarbeitet. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass nicht nur die „Organisation GdG“ ein Update erfährt, sondern vor allem auch der „Organismus GdG“ in seiner lebendigen Vielfalt gesehen und kultiviert wird. Auch wenn die Qualität dieser Konzepte durchaus verschieden ausfällt, so ist dennoch ein Anfang gemacht auf dem Weg einer mittelfristigen Pastoralplanung. Das Instrument ist vielerorts Katalysator für die Debatte um die Vision von Kirche, um Grundsätze des Handelns, um sozialraumorientierte und milieusensible pastorale Zielsetzungen, um schmerzhafte Abschiede und hoffnungsvolle Aufbrüche. Im Rahmen der Etablierung der pastoralen Räume sowie der Fusionsprozesse wurde 2013 auf der Grundlage einer neu entwickelten Satzung zum ersten Mal eine „GdG-Rats-Wahl“ durchgeführt, d. h. das entscheidende synodale Gremium der Ebene „Kirche am Ort“ ist nun der „Rat der Gemeinschaft der Gemeinden“ (GdG-Rat). 11Unterhalb des GdG-Rats ist es möglich, Pfarreiräte und/oder Gemeinderäte zu installieren, die lokale Zuständigkeit und Verantwortung haben. Dagegen ist der GdG-Rat „Planungs- und Entscheidungsorgan in allen grundlegenden Fragen der Pastoral, unbeschadet der Rechte der in den Pfarreien der Gemeinschaft der Gemeinden kanonisch ernannten Pfarrer“ (Satzung §3, 1). Der GdG-Rat ist ein pastorales Leitungsorgan: „Der GdG-Rat hat teil an der Leitung der Gemeinschaft der Gemeinden.“ (Satzung § 3, 3) Die Brisanz dieser Satzungspassagen ist noch längst nicht zu allen vorgedrungen, geschweige denn, dass sie schon die allgemeine Praxis prägen würde. „Verantwortung teilen“ will die Vorstände der GdG-Räte mit den Chancen, aber auch der Verantwortung dieser Satzungsaussagen so in Kontakt bringen, dass sie erkennen und dann auch praktisch umsetzen können, was an synodaler Sprengkraft hier enthalten ist (siehe unten Kapitel 4.).
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