Obwohl die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde neuscholastische Theologie über ein breites historisches Wissen zur Entwicklung des Bußsakraments verfügte, reflektierte sie jedoch nicht die darin sich ausdrückenden Denkform-Transformationen oder wandte die Erkenntnisse zu einer Veränderung sakramententheologischer Reflexion an, sondern versuchte, die vorfindliche Praxis in Traditionsbeweisen zu begründen. Eine wirklich historisch orientierte Reformulierung des Bußsakraments scheiterte (vgl. Dallen 1986, 184, mit dem Verweis auf die Enzyklika „Mirari Vos arbitramur“ (15.8.1832) von Gregor XVI., DH 2730-2732). Im Gegenteil: diese sich im späten 19. Jahrhundert bis zum frühen 20. Jahrhundert darstellende kirchliche und theologische Situation stellte für die sakramentale Praxis eine völlig neue Situation dar! Die geläufige Praxis des Kommunionempfangs sollte deutlich erhöht werden. Diese Veränderung in der Praxis der Eucharistiefeier führte zu einer regelrechten Kettenreaktion, die gravierende Auswirkungen auf das Sakrament der Buße hatte. Da der Kommunionempfang nämlich nur möglich ohne Todsünde sei, dieser Zustand aber nur sicher nach der Beichte sei, wurde diese als Absolution der Sünden vor jedem Kommunionempfang erbeten. Damit ergab sich die paradoxe Situation, dass das Sakrament der Beichte häufiger als im Konzil von Trient vorgeschrieben empfangen wurde. In den römischen Dekreten wurde dies durchaus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts begrüßt (so Leo XIII. (DH 3360-3364): Mirae caritatis vom 28.5.1902; Pius X. (DH 3375-3383): Sacra Tridentina Synodus vom 20.12.1905; (DH 3530-3536): Quam singulari vom 8.8.1910). Die mit der häufigen Kommunion verbundene Beichtpflicht führte schließlich zu jener Situation, die sich dann als Ausgang der Krise der Beichte, wie sie von den 1970ern an benannt wird, darstellt (vgl. Scheule 2002, 75-77)! Damit ist die historisch einmalige Beichthäufigkeit im 20. Jahrhundert „kein isoliertes running wild der Frömmigkeitspraxis […], sondern [stand] durchaus in einem Zusammenhang mit Theologie und Lehramt“ ( Scheule 2002, 78).
DAS BUSSSAKRAMENT ALS SEISMOGRAPH FÜR GESELLSCHAFTLICHE UND KIRCHLICHE ENTWICKLUNGEN
Das Bußsakrament scheint also eine Art Seismograph für gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen darzustellen. Nicht nur löste seine mittelalterliche Praxis die reformatorischen Streitigkeiten aus, sondern diese legten die dahinterliegenden theologischen Themen ja erst wieder offen. So brauchte es eine Klärung, wie Gott angesichts der Sünde seine Gnade dem sündigen Menschen tatsächlich zukommen lassen konnte. Die Kontroversen der Reformation kristallisierten sich nicht ohne Grund an diesem theologischen Streitpunkt und seiner gängigen Praxis. Wie wenig die Lösungen, die das Konzil von Trient entschied, zufriedenstellend waren, zeigt die Notwendigkeit einer Neuzuordnung von Glauben und Wissen in der Aufklärung. Für das Bußsakrament wesentlich wurde die Moralisierung des Glaubens, mit dem die Themen verhandelt wurden, die als rationale Erkenntnisse des Glaubens bewahrt bleiben konnten. Die Frage also, wie der Mensch zu leben hat, wurden von der religiösen Frage auf die moralische transformiert. Damit kritisierte die Aufklärung diejenigen Glaubensinhalte, die als religiöse nicht mehr verständlich waren, und reformulierte jene, die das Verhalten des Subjekts betrafen. Die augenscheinliche Überschneidung der Motive, die sich in der Ethisierung und Moralisierung des einzelnen Subjekts finden (vgl. Vorgrimler 1978, 192f.), und die im Laufe des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde neuscholastische Theologie, die sich einerseits aufgrund der erdrutschartigen Anfragen und Erkenntnisse außertheologischer Wissenschaften in die Defensive gedrängt sah und andererseits mit dem Entstehen des Ordentlichen Lehramtes eine lehramtliche Fassung erlangte (vgl. Wolf 2010, 240; 248; 252; 257) und die bisherige Vielfalt katholischer Reflexion auf die Herausforderungen der Aufklärung beinahe beendete (vgl. Norbert Fischer 2004; Bader und Fischer 2005; Fischer 2012a und 2012b), stellen die Situation dar, in die hinein im 20. Jahrhundert nicht nur die lehramtlichen Dekrete wirken, sondern auch die liturgische Erneuerung und Forschung (vgl. Dallen 1986, 188: „The practice of devotional confession began to be questioned in German-speaking countries in the 1930s and came under strong criticism in the 1940s.“). Letztlich wird die Festlegung des Konzils von Trient auf die Privatbeichte als einzige von alters her praktizierte Bußform schlicht wissenschaftlich widerlegt und damit der Weg eröffnet, über neue Formen des Sakraments der Buße nachzudenken (so als erster: Xiberta 1922; als Überblick ebenso Dallen 1986, 186ff.).
Die liturgische Erneuerung legte damit ein Problem offen, das selbst zu Beginn des II. Vatikanischen Konzils für das Bußsakrament zu überraschenden Einsichten führen sollte: die sich verstetigende Konzentration auf den Sünder und seine Disposition vernachlässigte die kirchliche Dimension des Sakraments dermaßen, dass das Sakrament der Buße schlicht nicht mehr als Liturgie wahrgenommen wurde (vgl. Kaczynski 2009, 154). Somit konnten folglich auf dem II. Vatikanum zunächst auch keine liturgischen Reformideen eingebracht werden. Es wurde nur die Anweisung auf eine grundlegende Reform in die Liturgiekonstitution eingebracht (SC 72,1)! Das Bußsakrament war als Institut in einem Maße verrechtlicht, dass die eigentlichen Themen – so die Vergebungsproblematik – in den Hintergrund traten (vgl. Krämer 1998, 211). Mit diesem Verlust der Kirchlichkeit im Vollzug des Sakraments kann aber zugleich das Zueinander von der von Gott ermöglichten Umkehr, der Sündenvergebung durch das Sakrament und der notwendigen sakramentalen Handlung zur Sündenvergebung angesichts der Umkehr des Sünders nicht mehr gedacht werden.
Es zeigt sich, dass sich in dieser Unklarheit ein Konflikt verstetigt, der nicht nur perspektivisch im Ordo Paenitentiae von 1973 (vgl. Deutsches Liturgisches Institut 2008) weiter besteht, sondern seine Ursachen in den in der Scholastik auftretenden Disputen zwischen der Funktion der Reue angesichts der Absolution, sprich der Frage nach dem Zustandekommen des Sakraments, hat. Es scheint, als sei der Verlust der Kirchlichkeit mehr als nur ein äußeres Element, sondern die grundlegende Notwendigkeit angedeutet, das Bußsakrament als Einzelsakrament als kirchliches Handeln zu begründen.
DIE FREIHEIT DER VERGEBUNG
Die in Trient festgelegte primäre Bußpraxis der sakramentalen Einzelbeichte steht auch nach dem II. Vatikanum weiterhin im Vordergrund. Trotz entsprechender historischer Kenntnis, geringer Nachfrage und erwünschter Vielfalt der Bußformen wird diese Form als die ordentliche entschieden. Diese Entscheidung ist, dogmenhistorisch betrachtet, keineswegs zwingend gewesen. Die durch das II. Vatikanum angestoßene Reform stellt sich einerseits mit der Entscheidung zur Einzelbeichte bis in die rechtlichen Vorschriften hinein in die Tradition Trients. Andererseits nimmt sie mit dem Gedanken der Versöhnung mit der Kirche ein faktisch vergessenes altkirchliches Motiv wieder auf. Allerdings wird diese in einer Weise betont, dass das Zueinander der Versöhnung mit Gott und der Versöhnung mit der Kirche im Sakrament ungeklärt bleibt, da der nachkonziliare Ordo Paenitentiae die beiden Motive der Versöhnung verbindet, ohne jedoch genaueres darüber zu sagen, wie sich die Versöhnung mit Gott und die Versöhnung mit der Kirche genau zueinander verhalten.
So lässt sich also die Entscheidung zur sakramentalen Einzelbeichte als vorrangige Praxis durchaus aus einer prägenden Teiltradition begründen. Ebenso wesentlich erscheint mir aber, dass dieser sakramentale Vollzug als je persönlicher Akt vor allem die Einsicht ausdrückt, dass Vergebung als humaner Vollzug an das Subjekt und seine Fähigkeit, sich zur Schuld zu verhalten, gebunden ist. Dazu braucht die konkrete Praxis des Sakraments jedoch eine Form, die dem Inhalt des Sakraments entspricht. Mit anderen Worten: im Sakrament vollzieht sich in symbolischer Form, was die Intersubjektivität ausmacht, also die in Freiheit vollzogenen reziproken Anerkennungsverhältnisse, die gerade in der Vergebung als fragile virulent sind. Die Einsicht Kants, dass die Schuld als allerpersönlichste gerade nicht transmissibel ist, bedeutet ja auch, dass nur der einzelne Mensch für sie einstehen kann. In diese Bestimmungen hinein besteht das Besondere des Sakraments der Beichte nun gerade in dem Zuspruch Gottes, dass Vergebung ermöglicht wird und so möglich ist. Wird hingegen die wahrgenommene Krise des Einzelsakraments der Beichte in den römischen Dokumenten vor allem mit dem schwindenden Sündenbewusstsein begründet, verengt diese Sicht doch zumindest die Feststellung, dass zu modernem Bewusstsein das Schuldbewusstsein durchaus gehört. Wie jedoch dieses Schuldbewusstsein als Sündenbewusstsein erfahren werden kann, erscheint als die eigentliche Herausforderung sakramentenpastoraler Praxis. Dogmatisch weiterführender scheint mir die Einsicht zu sein, dass das Bewusstsein von persönlicher Schuld so weiterbestimmt wird, dass einerseits die Bindung des Gewissens an die Wahrheit über die gewählte Form der Vergebung entscheidet und andererseits theologisch die Vergebungspraxis konstitutiv bezogen ist auf die Praxis Jesu. Darin weiß die Kirche sich im Geist ermächtigt, die Praxis der indikativischen Vergebungspraxis Jesu fortzuführen. In dieser Wiedergewinnung der Vergebungspraxis Jesu, wie sie herausragend in jener Markusperikope überliefert ist, wird sowohl Vergebung als Handeln Gottes gewahrt als auch die Bevollmächtigung zur Vergebung eröffnet. Damit wird erst denkbar, dass Kirche der Ort wechselseitiger Vergebung ist, weil sie symbolisch ausdrückt, was Gott in Jesu zugesagter Verheißung schenkt: als freies Geschehen der Gnade werden in der so gedachten sakramentalen Vergebung die Schuld und mit ihr die Sünde nicht verharmlost, sondern dahin zurückgeführt, wo sie thematisiert gehören: in die menschliche Freiheit.
Читать дальше