Änderungen des kirchlichen Eheprozessrechts sind zweifellos ein Ansatzpunkt, um das Ehenichtigkeitsverfahren für Betroffene attraktiv(er) zu machen. Vorbehalte gegenüber dem Verfahren werden dadurch möglicherweise abgebaut sowie Hemmschwellen verringert. Dies kann die Akzeptanz des Eheprozesses unter Betroffenen erhöhen. Die Erfolgsaussichten eines solchen Verfahrens werden dadurch – anders als der mehrdeutige Hinweis auf einen „kurzen Prozess“ suggerieren kann – nicht verändert. Auch ein optimal organisiertes Gerichtsverfahren führt nicht zu den von den Antragstellern erwünschten Ergebnissen, wenn es für die Nichtigerklärung der Ehe keine sachliche Grundlage gibt.
Sollen die Erfolgsaussichten eines Ehenichtigkeitsverfahrens verbessert werden, ist bei den Gründen anzusetzen, die das kanonische Eherecht für die Nichtigerklärung einer Ehe bereithält. Insbesondere ist zu fragen, ob die kirchlichen Gerichte bislang alle Möglichkeiten berücksichtigen, die der Gesetzgeber im Codex Iuris Canonici eröffnet. Wer dieser Frage nachgeht, dessen Blick fällt auch auf einen Klagegrund, der mehr als dreißig Jahre nach der Promulgation des CIC noch ein Schattendasein fristet: der Ausschluss der Hinordnung der Ehe auf das Gattenwohl.
Das Gattenwohl ( bonum coniugum ) begegnet im CIC an herausragender Stelle, in der programmatischen Norm, die das Eherecht einleitet. Dort wird der Ehebund als eine Gemeinschaft des ganzen Lebens beschrieben, die „durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Gatten und auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist“. 4Der Begriff „Wohl der Gatten“ wurde 1983 neu in das kirchliche Gesetzbuch aufgenommen, als möglicher Anknüpfungspunkt für die Nichtigkeit von Ehen jedoch eher zögerlich wahrgenommen. 1995, mehr als zehn Jahre nach Inkrafttreten des CIC, konstatierte Norbert Lüdecke „Startschwierigkeiten“ 5für den Klagegrund „Ausschluss des bonum coniugum “ und ermutigte dazu, ihn an kirchlichen Gerichten zu berücksichtigen. Weitere 20 Jahre später gibt es zwar einzelne einschlägige Urteile, von einer routinierten Anwendung kann aber längst noch keine Rede sein. Aus diesem Grund ist eine neuerliche Starthilfe angezeigt.
Die Kirchenrechtswissenschaft hat sich unmittelbar nach der Promulgation des CIC von 1983 mit dem bonum coniugum nur sehr selten eigens befasst. 6Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik beginnt erst Mitte der 90er Jahre. 7Die Zahl der in der Folgezeit veröffentlichten Arbeiten belegt, dass das bonum coniugum stärker in den Fokus der Kanonistik rückte. Teils unter Rückgriff auf die Ehezwecklehre des CIC/1917, teils in deutlicher Abgrenzung davon wurde versucht, dieses neuartige Konzept formal einzuordnen, den Begriff inhaltlich zu konturieren und mögliche Perspektiven für ein Ehenichtigkeitsverfahren zu benennen. Nach ersten einschlägigen Urteilen der Rota Romana um das Jahr 2000 erhöhte sich die Zahl der Beiträge etwas. 8Bei den wenigen zum bonum coniugum publizierten Monographien handelt es sich um italienische oder englische Studien, darunter mehrere an den päpstlichen Universitäten in Rom erarbeitete Dissertationen. 9Sie werden jedoch bisher nicht breiter rezipiert und gehen zumeist auch nicht auf die jüngere Rechtsprechung der Rota ein. 10Diese wurde bisher allein von Giacomo Bertolini ausführlich dargestellt und erörtert. 11Der Umgang mit dem Klagegrund an den Gerichten des deutschen Sprachraums wurde bis heute noch nicht untersucht, eine deutschsprachige Monographie zum Ausschluss des Gattenwohls steht ebenfalls noch aus. 12
1.2 Ziel und Aufbau
Die vorliegende Untersuchung möchte diesem Mangel abhelfen. Sie nimmt eine formale und inhaltliche Bestimmung des bonum coniugum vor und zeigt auf, dass es sich beim „Ausschluss der Hinordnung auf das Gattenwohl“ um einen justiziablen Klagegrund handelt.
Dazu wird zunächst der Hintergrund der Fragestellung ausgeleuchtet, um die Aufnahme des bonum coniugum in das kirchliche Gesetzbuch einordnen zu können. So wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die damalige lehramtliche Verhältnisbestimmung der ehelichen Sinngehalte vonseiten der akademischen Theologie angefragt und auf dem II. Vatikanischen Konzil das Thema erneut behandelt. Diese Debatten prägten die Revisionsarbeiten am CIC maßgeblich.
Darauf aufbauend werden Vorkommen und Bedeutung des Begriffs bonum coniugum im geltenden Recht untersucht, um eine formale Bestimmung des Gattenwohls vornehmen zu können. Diese Abgrenzung ist erforderlich, damit gezeigt werden kann, dass der Ausschluss der Hinordnung auf das bonum coniugum eine eigenständige Form der Partialsimulation darstellt und in Ehenichtigkeitsverfahren herangezogen werden kann.
Es folgt eine Erörterung der Judikatur, um die formale Bestimmung zu überprüfen und erste Hinweise auf eine inhaltliche Konturierung des Gattenwohls zu erhalten. Hierfür wird zuerst die Rechtsauffassung der Rota Romana, des päpstlichen Berufungsgerichts, anhand ausgewählter Urteile zum Ausschluss des Gattenwohls analysiert. Danach folgt eine Darstellung der Rechtsprechung der Gerichte des deutschen Sprachraums, die im Rahmen dieser Studie gebeten wurden, Angaben zu ihrem Umgang mit dem Klagegrund zu machen. Mittels der Beispiele aus der Judikatur werden verschiedene Tatbestände vorgestellt, die nach Auffassung des jeweiligen Gerichts einen Ausschluss des bonum coniugum darstellen. Somit wird deutlich, dass ein Vorbehalt im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wohl der Gatten nicht nur auf Extremfälle beschränkt ist, sondern durchaus praktische Relevanz besitzt.
In der kanonistischen Doktrin werden unterschiedliche Aspekte des bonum coniugum benannt bzw. verschiedene Konzepte aufgegriffen, um den Begriff inhaltlich zu füllen. Die gängigen Bestimmungsversuche werden vorgestellt und vor dem Hintergrund ihrer kodikarischen und bisweilen außerkodikarischen Grundlagen daraufhin überprüft, ob sie eine rechtliche Konkretion erbringen. Auf diese Weise soll ermittelt werden, welche Teilaspekte das Gattenwohl ausmachen.
Sicherlich hat das Fehlen einer griffigen inhaltlichen Bestimmung des bonum coniugum die Entwicklung einer konsolidierten Judikatur verzögert und erschwert. Daher werden die herausgearbeiteten Teilaspekte jeweils anhand eines Beispielfeldes vertieft. Hierfür werden Fragestellungen hinsichtlich Partnergewalt, Gestaltung der ehelichen Sexualität und partnerschaftlicher Ko-Evolution behandelt. Dadurch werden sowohl verschiedene Varianten eines Ausschlusses des bonum coniugum vorgestellt als auch konkrete Anknüpfungspunkte für die Rechtsprechung markiert.
Abschließend soll der Ertrag der vorangehenden Ausführungen für die Rechtspraxis erhoben werden. Dabei ist neben dem grundsätzlichen Erfordernis eines positiven Willensaktes darauf einzugehen, was genau einen Ausschluss der Hinordnung auf das Gattenwohl darstellt und welche Formen dieser annehmen kann. Des Weiteren sind Abgrenzungen von anderen Konsensmängeln vorzunehmen, die ebenfalls das bonum coniugum betreffen. Zuletzt werden Fragen im Zusammenhang mit dem Beweis des Klagegrundes geklärt.
Neben der Partialsimulation ist das bonum coniugum auch für andere Ehenichtigkeitsgründe von Bedeutung bspw. hinsichtlich einer Unfähigkeit zur Eheführung gemäß c. 1095, n. 3. Eine solche Unfähigkeit besteht dann, wenn ein Partner aus psychischen Gründen nicht in der Lage ist, wesentliche Pflichten der Ehe zu übernehmen. Dass sich aus der Hinordnung auf das bonum coniugum eigenständige Pflichten ergeben, wird weitgehend bejaht. Die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit das Gattenwohl Objekt einer Unfähigkeit sein kann, stellt jedoch ein eigenes Thema dar und wird daher in der vorliegenden Arbeit nur dort berücksichtigt, wo sich konkrete Verbindungen ergeben.
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