Nach dem Neuen Testament hat Gott Seine Antwort auf das Böse vollendet, indem Er Jesum Christum und den Heiligen Geist in die Welt gesandt hat. Das Böse ist überwunden durch die Sendung Christi und des Geistes. Erlösung geschieht durch die Liebe, die Gott Selbst ist. Durch Christum und im Geiste befähigt Gott den Menschen zur Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Sünde wird von dieser Liebe besiegt. Man hat Zugang zu ihr – zum Sieg über die Sünde – durch die Person Jesu Christi, durch die Gemeinschaft mit Ihm, besonders durch die Teilnahme am Opfer seines Lebens am Kreuz. Man hat Zugang zu Christo durch Seinen Leib, die Kirche; und man wird ihr „einverleibt“ durch die Taufe, durch die die Sünden vergeben werden. Die Gemeinschaft mit Christo, besonders die Teilhabe an Seinem Kreuzesopfer, wird sakramental weitervermittelt durch die Feier des „Herrenmahls“, des Meßopfers, der Eucharistie. Im Falle des Verlustes der Gnade durch die Sünde wird die heiligmachende Gnade bzw. die caritas dem Menschen neu eingegossen durch das Sakrament der Buße und Versöhnung. Im Mittelalter wird diese sakramentale Frömmigkeit das Herz des christlichen Lebens sein, und bis heute sollte sie das katholische Glaubensleben bestimmen. Zugleich aber wurde und wird auch immer abgehoben auf das tägliche Leben als den Ort, in dem das Gnadenleben sich verwirklicht. Liebe bezeigt sich und verwirklicht sich in der Tat in der Liebe zum Nächsten, besonders zu den Geringsten der Menschen, deren Nöte sie zu lindern sucht.
2 Konsequenzen für die Beziehung zu Natur und Naturwissenschaft
Können wir sagen, daß der Glaube an die biblische Offenbarung Naturphilosophie und Naturwissenschaft begünstigt? Wir werden diese Frage differenziert beantworten müssen.
1. Der Zweck der Offenbarung besteht nicht in der Mitteilung von Naturerkenntnis. Er besteht in der Gemeinschaft von Mensch und Welt mit Gott und im Sieg über das Böse. Grundsätzlich wird das Böse nicht in der Materie oder der Natur gesehen, sondern im bösen Willen. Der Sieg über das Böse und die Gemeinschaft mit Gott sind Sache der Gnade, also das Werk Gottes; aber der Mensch muß ihr zustimmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint der Glaube an die Offenbarung das Interesse an der Natur nicht zu befördern. Der Glaube an die Offenbarung entspricht der Suche nach Gott, und Gott kann nicht mit der Welt oder etwas in ihr identifiziert werden. Er ist strikt transzendent 61. Für die christliche Frömmigkeit und Theologie ist Gott nicht die Natur, bzw. Er ist der andere im Verhältnis zur Natur, und in der Geschichte der christlichen Frömmigkeit ist die Natur bestimmt nicht der bevorzugte Weg auf Gott zu. Für viele – auf exemplarische Weise für den hl. Augustinus 62– war und ist der bevorzugte Weg zu Gott des Menschen „inneres Leben“, zu dem er Zugang hat durch Gebet und Liturgie. Als vernünftiges Wesen, ausgestattetet mit Denken und freiem Willen, transzendiert der Mensch alles Endliche und öffnet sich für Gott; er wird entdecken, was ihm den Zugang zu Gott versperrt, und versuchen, es aus dem Weg zu räumen. Ein typisches Beispiel der Frömmigkeit, die wir hier diskutieren, kann gesehen werden in des hl. Augustinus’ bündiger Zusammenfassung dessen, was er zutiefst verlangt: „Gott und die Seele will ich erkennen – sonst gar nichts!“ 63Gewiß, der Christ, der von der Sünde erlöst ist, richtet seinen Blick „nach außen“. Das Gnadenleben des Christen ist ein Leben der Liebe: Man überwindet seine Selbstversklavung, und das „in sich verkrümmte Herz“ öffnet sich für den anderen. Die Liebe wird jedoch primär als Liebe zu Gott – manche Mystiker werden sagen, daß die Liebe zu Gott im Grunde die Liebe zur Liebe selbst ist, denn Gott ist Liebe – und zum Nächsten verstanden (vgl. Mk. 12,28-34). Der Blick des Christen „nach außen“ richtet sich also primär auf seine „Mitmenschen“. Das ist sowohl in der Schrift als auch in der späteren christlichen Tradition so.
2. Die christliche Spiritualität hat nichtsdestoweniger Platz für die Natur. „Liebe und tu, was du willst“, ist eine bekannte Aussage des hl. Augustinus. Sie deutet an, daß das menschliche Dasein durch die Gnade dazu bestimmt ist, gänzlich und als solches Liebe zu werden. Es ist demnach nicht so, daß die christliche Liebe sich auf bestimmte Gegenstände beschränkt. Wenn letzteres der Fall wäre, liebte der Mensch nur in bestimmten Umständen – zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten –, aber nicht grundsätzlich und in der Regel. Dann wäre die Rede von der Erlösung des Menschen für Freiheit und Liebe im Grunde absurd und leer. Wie aber manche Mystiker sagen, nimmt der Mensch durch die Gnade – in der Gemeinschaft mit Gott, der die Liebe ist – mehr und mehr das Dasein, ja die Gestalt der Liebe an. Dank der reinen Beziehung zu Gott nimmt der Mensch die Natur in ihrer Schönheit und Güte wahr – wir sagten schon, daß die Offenbarung die Natur nie negativ, sondern immer in einem positiven Licht porträtiert, und das rechtfertigt das spätere theologische Axiom gratia non destruit, sed supponit et perficit naturam –, und umgekehrt ist der reine Blick auf die Natur ein Element der rechten Beziehung zu Gott 64. Die Liebe gibt dem Menschen einen reinen Blick auf die Natur, und durch diesen Blick, ungetrübt von der Sünde, nimmt der Mensch in der Natur die Gegenwart Gottes, des Schöpfers der Welt, der Sich um alles, was Er geschaffen hat, kümmert, wahr (vgl. Mt. 6,19-34). Die Welt erscheint in ihrem ursprünglichen Gutsein und ihrer ursprünglichen Schönheit und somit als ein Verweis auf Gott und als ein Medium der Gotteserkenntnis (vgl. Röm. 1,19-24) 65; insofern, als die Welt unter dem Bösen zu leiden hat, erscheint sie als der Erlösung und der Heilung bedürftig (vgl. Röm. 8,19-22). Dort, wo der Blick des Menschen auf die Natur von der Sünde verzerrt ist, nimmt er Gott in der Natur nicht wahr, bzw. nimmt Ihn in entstellter Weise wahr (vgl. Mt. 6,19-34; Röm. 1,19-24). Faktisch ist der Blick des Menschen auf die Wirklichkeit getrübt von der Sünde (vgl. Röm. 1; Joh. 9). Durch die Erlösung werden seine Augen geöffnet (Joh. 9). Die christliche Erlösungslehre impliziert somit, daß die Gemeinschaft mit Gott in der Liebe ein heiles Verhältnis zur Natur mit sich bringt. Es ist keine analytische, wissenschaftliche Beziehung, keine Erkenntnis der Weise, wie die Natur funktioniert, sondern vielmehr eine Haltung der Bejahung und der Hochschätzung, der Bewunderung und des Staunens. Wir sehen diese Haltung verkörpert im hl. Franz von Assisi. Im Prinzip vertieft sie das Interesse an der Natur und stützt somit die Erforschung der Natur.
3. Im Prinzip steigert die Offenbarung das Interesse an der Natur und deren Erforschung auch insofern, als im Lichte der Offenbarung die Natur als Gottes Schöpfung und als der Ausdruck Seiner Vorsehung, somit nicht als sakral, sondern als profan erscheint 66– für den Gläubigen ist die Natur nicht beängstigend (auch die Himmelskörper haben nichts Göttliches), und sie hat keine Bereiche, die ihm prinzipiell verschlossen („tabu“) wären –, und überdies eine rational intelligible Struktur aufweist. Der Mensch ist dazu bestimmt, die Erde zu kultivieren – und in diesem Sinn sie sich untertan zu machen – und sie somit zu erforschen. Nach Gen. 1 ist das ein Auftrag, der dem Menschen mit der Schöpfung gegeben ist. Die thomistische Lehre der Selbsterfahrung des Menschen als eines Wesens mit einem natürlichen Verlangen nach Erkenntnis entspricht diesem Auftrag. Theologisch beruht die Möglichkeit, die innere „Logik“ der Welt zu untersuchen, auf dem Glauben an die Schöpfung der Welt durch einen guten, allmächtigen Gott, der als solcher rational handelt. Aufgrund dieses Glaubens an Gott kann angenommen werden, daß die Werke Seiner Schöpfung rationaler Forschung offenstehen. Jesu Gebot, den Nächsten zu lieben, und Seine Sorge für die Kranken werden den Christen zur Kultivierung der Gesundheitspflege, der medizinischen Praxis und damit der Wissenschaft und Forschung anregen. Dieser Stimulus hat seine Spuren im Ordensleben hinterlassen.
Читать дальше