Beispiel:Wird eine nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz genehmigungsbedürftige Anlage ohne die erforderliche Genehmigung betrieben, „soll“ nach § 20 II S. 1 BImSchG die zuständige Behörde deren Stilllegung oder Beseitigung anordnen. Im Regelfall ist die Anlage ohne erforderliche Genehmigung stillzulegen. Nur wenn aufgrund atypischer Umstände ein Ausnahmefall vorliegt, hat die Behörde Ermessen, ob sie die Anlage stilllegt oder nicht.
III.Richtige Ermessensausübung
180Wenn der Behörde Ermessen eingeräumt ist, bedeutet dies nicht, dass diese völlig „freie Hand“ bei ihrer Entscheidung hat. Vielmehr regelt § 40 LVwVfG, wie die Verwaltung das ihr eingeräumte Ermessen richtig ausübt.
Nach § 40 LVwVfGmuss die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen
erkennbar „ausüben“
„entsprechend dem Zweck der Ermächtigung“ handeln und
„die gesetzlichen Grenzen des Ermessens“ einhalten.
181Die Behörde muss das ihr eingeräumte Ermessen nach außen erkennbar (also in der Begründung ihres Bescheids) ausüben. Geht die Behörde irrtümlich davon aus, dass ihr kein Ermessen eingeräumt sei und stellt sie dementsprechend keine Ermessenserwägungen an, begeht sie einen Fehler. Diesen Fehler nennt man Ermessensnichtgebrauch.
Beispiel:Die Behörde schreibt in ihrem Bescheid, dass sie aufgrund der rechtswidrigen Errichtung und Nutzung des Gartenhäuschens gezwungen ist, dessen Abbruch anzuordnen. Die auf § 65 I S. 1 LBO gestützte Abbruchsanordnung steht jedoch im Ermessen der Behörde („kann angeordnet werden“). Es muss in dem Bescheid zum Ausdruck kommen, dass die Behörde ihr Ermessen erkannt und ausgeübt hat; andernfalls liegt ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs vor.
2.Zweckentsprechende Ermessensausübung
182Nach § 40 LVwVfG muss die Behörde das Ermessen „entsprechend dem Zweck der Ermächtigung“ ausüben. Die Behörde darf sich bei ihrer Entscheidung nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Sachfremde Erwägungen sind solche, die dem Normzweck zuwiderlaufen. Stellt die Behörde auf solche Erwägungen ab, begeht sie einen Fehler. Diesen Fehler nennt man Ermessensfehlgebrauch.
Beispiel:Behörde erlässt gegenüber E eine auf § 65 I S. 1 LBO gestützte Abbruchsanordnung mit der Begründung, E selbst habe sich doch häufig öffentlich für die Erhaltung von Umwelt und Natur eingesetzt, weshalb gerade er sein illegal im Außenbereich errichtetes Wochenendhaus abreißen solle.
Beispiel:Die Behörde lehnt den Antrag des A auf Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis für einen Stand in der Fußgängerzone mit der Begründung ab, A weigere sich Mehrweggeschirr zu verwenden. Diese Erwägung ist ermessensfehlerhaft; es liegt ein Ermessensfehler in Form des Ermessensfehlgebrauchs vor. Die Entscheidung orientiert sich nicht am Zweck des Straßengesetzes, das die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs schützen will. Zweck des Straßengesetzes ist nicht der Umweltschutz und die Abfallvermeidung (vgl. VGH BW, Beschl. v. 14.10.1996, VBlBW 1997, 107). Etwas anders gilt, wenn ein Bezug zur Straßennutzung besteht, z. B. wenn die Erlaubnis mit der Begründung abgelehnt wurde, dass es in der Vergangenheit am Stand des A stets zu einem erhöhten Müllaufkommen und dadurch zu einer Verschmutzung der Straße kam.
183Ähnlich ist die Situation, wenn die Behörde falsche oder nicht alle Umstände, die für die Entscheidungsfindung relevant sind, bei ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigt. Auch hier stellt die Behörde ausgehend von einem falschen Sachverhalt sachfremde Erwägungen an mit der Folge, dass ein Fehler in Form des Ermessensfehlgebrauchsvorliegt.
Beispiel:Die Behörde geht in der obigen Variante des letzten Beispielsfalls fälschlicherweise davon aus, dass es am Stand des A stets zu Verschmutzungen der Straße kam, während dies in Wirklichkeit nicht der Fall war.
3.Beachtung der gesetzlichen Grenzen
184Nach § 40 LVwVfG hat die Behörde bei ihrer Ermessenentscheidung „die gesetzlichen Grenzen des Ermessens“ einzuhalten. Solche Grenzen können sich aus der Rechtsgrundlage selbst (a) oder aus höherrangigem Recht (b–d) ergeben. Werden diese Grenzen nicht beachtet, spricht man von Ermessensüberschreitung.
185 a) Gesetzliche Grenzen im angewandten Gesetz selbst .Die Grenzen des Ermessens können sich aus dem zugrunde liegenden Gesetz selbst ergeben.
Beispiele:Die Behörde möchte eine zugunsten einer obdachlosen Familie nach § 38 I Nr. 1 PolG beschlagnahmte private Wohnung länger als 6 Monate beschlagnahmen, da zwischenzeitlich noch keine geeignete Unterkunft gefunden wurde. Dies ist nach § 38 IV S. 2 PolG aber rechtlich nicht möglich. Danach darf die Beschlagnahme nicht länger als 6 Monate aufrechterhalten werden.
Die Behörde möchte wegen der besonderen Schwierigkeiten bei der Bearbeitung einer Erlaubnis eine Gebühr von 5.000 Euro festsetzen. Der in der einschlägigen Gebührensatzung vorgesehene Gebührenrahmen geht allerdings nur bis 3.000 Euro. Die höhere Gebühr darf hier trotz der – unterstellten – besonderen Schwierigkeit des Falles nicht festgesetzt werden.
186 b) Grundrechte und EU-Recht .Die gesetzlichen Grenzen werden von der Behörde auch dann nicht beachtet, wenn sie gegen Grundrechte oder EU-Recht verstößt.
Beispiele:A, B, C und D haben im Außenbereich illegal vier nebeneinanderstehende Wochenendhäuser errichtet. Die Behörde geht nur gegenüber A und B mit einer Abbruchsanordnung vor. Diese Abbruchsanordnungen verstoßen gegen Art. 3 I GG. Denn A und B werden trotz vergleichbarer Sachverhalte ohne sachlichen Grund anders behandelt als C und D (s. a. Rn. 203).
187 c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit .Schranken des Ermessens ergeben sich auch aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der aus dem Rechtsstaatsprinzip und, wenn das staatliche Handeln in Grundrechte eingreift, auch aus den Grundrechten folgt (BVerfGE 61, 126, 134 und 111, 54, 82; Detterbeck, AVR, Rn. 229). Zum Teil ist er einfachgesetzlich geregelt (z. B. § 5 PolG; § 19 II, III LVwVG).
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass staatliches Handeln den Betroffenen nicht übermäßig belasten darf („nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“).
Im Einzelnen gilt: Eine staatliche Maßnahme muss zur Verfolgung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlichund angemessen(verhältnismäßig im engeren Sinne) sein.
188Der von der Verwaltung verfolgte Zweckmuss legitimsein. Das bedeutet, der erstrebte Erfolg muss zulässig sein (z. B. Schutz der Nichtraucher; nicht aber wegen Art. 3 III GG Benachteiligung eines Geschlechts).
189Das eingesetzte Mittel muss zur Zweckverfolgung geeignetsein. Das Mittel muss also den angestrebten Zweck erreichen können oder diesen zumindest fördern.
Beispiele:A soll seinen bissigen Hund jedes Mal anleinen, wenn er mit ihm das eingezäunte Grundstück verlässt. Der Leinenzwang ist geeignet, das Beißen des Hundes zu verhindern.
Die Aufforderung an einen Gastwirt, zu verhindern, dass seine Gäste ihre Fahrzeuge auf dem Gehweg parken, dürfte ungeeignet sein. Der der Gastwirt hat außer Appellen keine Möglichkeit, seine Gäste zu veranlassen, geparkte Fahrzeuge zu entfernen.
190Das eingesetzte Mittel muss auch erforderlichsein. Das Mittel ist erforderlich, wenn es kein milderes – den Bürger weniger belastendes – gibt, welches den angestrebten Zweck ebenso gut und wirksam erreichen kann. Kurz gesagt: Ein Mittel ist erforderlich, wenn es kein milderes Mittel gibt, welches gleich gut geeignet ist.
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