Es geht nicht an, dass ein Sachbearbeiter eine bauliche Anlage für verunstaltend hält, der für einen anderen Buchstaben zuständige Sachbearbeiter eine völlig vergleichbare Anlage jedoch als nicht verunstaltend ansieht und der Bürger hiergegen keinen gerichtlichen Rechtsschutz erlangen können soll. Entweder ist eine Anlage verunstaltend oder sie ist es nicht und im Zweifelsfall muss ein Gericht dies entscheiden.
Ausnahmsweise wird allerdings auch von der Rechtsprechung der Verwaltung ein Beurteilungsspielraum eingeräumt.
III.Beurteilungsspielraum
1.Fallgruppen von Beurteilungsspielraum
165Nur in folgenden Fällen ist in der Rechtsprechung ein Beurteilungsspielraum anerkannt (vgl. Maurer/Waldhoff, AVR, § 7 Rn. 37 ff. und Detterbeck, AVR, Rn. 362 ff.):
Prüfungsentscheidungen bzw. prüfungsähnliche Entscheidungen (BVerwGE 99, 74 ff.; 104, 203 ff.)
Beispiele:Abitur, Staatsexamen, Versetzung in die nächsthöhere Schulklasse.
Beamtenrechtliche Beurteilungen (BVerfG, NVwZ 2002, 1368; BVerwGE 97, 128).
KeinBeurteilungsspielraum dagegen bei Entzug der Luftfahrerlaubnis wegen „charakterlicher oder geistiger Mängel“ (BVerwGE 129, 355).
Entscheidungen wertender Art durch weisungsfreie Ausschüsse, die mit Sachverständigen besetzt sind (BVerwGE 62, 330, 337 ff.; 129, 27, 33).
Beispiele:Weinprüfung, Prüfung der Befähigung zum Architekten durch unabhängigen Sachverständigenausschuss.
Prognose- und Risikoentscheidungen (BVerwGE 80, 270, 275; 72, 300, 316).
Beispiele:Zulassung von weiteren Taxen, ohne dass die Funktionsfähigkeit des örtlichen Taxengewerbes bedroht wird, ist eine gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Prognoseentscheidung. Risikoentscheidungen sind insbesondere im Umweltrecht vorzunehmen (Genehmigung von Kernkraftwerken).
2.Gerichtliche Überprüfbarkeit
166Die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums bedeutet aber nicht, dass das der Verwaltung eingeräumte Beurteilungsrecht einer gerichtlichen Kontrolle völlig entzogen wäre. Vielmehr ist ein reduzierter Prüfungsmaßstabanzulegen.
Der eingeräumte Beurteilungsspielraum wurde überschritten, wenn die Behörde:
Verfahrensfehler begangen hat;
Beispiel:Es wurde eine geringere als die in der Prüfungsordnung vorgesehene Bearbeitungszeit gewährt.
von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist;
Beispiel:Die dienstliche Beurteilung eines Beamten stützt sich auf Ereignisse, die weit zurück und nicht in dem zu beurteilenden Zeitraum liegen.
allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt hat;
Beispiel:Prüfungsaufgabe wurde zwar vollständig richtig gelöst, aber dennoch mit „befriedigend“ bewertet, weil die Aufgabe so leicht gewesen sei. Bei jeder Prüfungsaufgabe muss die Höchstnote erreicht werden können.
sich von sachfremden Erwägungen leiten ließ;
Beispiel:S wird wegen seiner politischen Auffassung vom Prüfer zu streng beurteilt.
den Gleichheitssatz missachtet hat;
Beispiel:S wird in der mündlichen Prüfung als einziger vom Prüfer mit den Worten begrüßt: „Ich hätte nie gedacht, dass Sie es bei Ihren schlechten Leistungen während des Studiums überhaupt in die mündliche Prüfung schaffen. Da fangen wir bei Ihnen am besten zunächst mit ganz leichten Fragen an.“
eine vertretbare Lösung als falsch bewertet hat.
IV.Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe
167Unbestimmte Rechtsbegriffe sind vor ihrer Anwendung auszulegen. Der Anwender des Rechts muss wissen, was die Begriffe bedeuten. In der Praxis ist die Auslegung neben der anschließenden Subsumtion (Unterordnung des Sachverhalts unter die Tatbestandsvoraussetzungen) das Kernstück zur Lösung eines Falles.
168Die Wortlautauslegung orientiert sich an dem allgemeinen Sprachgebrauch oder an einer bestehenden Fachterminologie.
Beispiel:Nach § 2 IV StVO besteht die Pflicht, mit Fahrrädern bei entsprechender Beschilderung die Radwege in der jeweiligen Fahrtrichtung zu benutzen. A befährt mit seinem Liegerad trotz Beschilderung nicht die Radwege, sondern die Fahrbahn der Straße. Er wendet ein, bei seinem Liegerad handle es sich um gar kein Fahrrad im Sinne von § 2 IV StVO.
Lösung:Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zählen zu den „Fahrrädern“ Fahrzeuge, die mit wenigstens zwei Rädern ausschließlich durch Muskelkraft angetrieben werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.5.2001 – 3 B 183/00, juris). Bei dem Liegerad handelt es sich zweifelsohne um ein Fahrrad im Sinne von § 2 IV StVO.
Neben der Wortlautauslegung werden meistens noch andere Auslegungsmethoden (ergänzend) herangezogen.
Im obigen Beispielergibt der systematische Vergleich mit den in § 1 II StVG genannten Kraftfahrzeugen, die durch Maschinenkraft bewegt werden, dass Fahrräder im Umkehrschluss nicht mit Maschinenkraft, sondern mit Muskelkraft angetrieben werden.
Der Wortlaut bildet die Grenze der Auslegung. Wird diese Grenze überschritten, findet keine Auslegung, sondern eine grds. unzulässige Weiterentwicklung des Gesetzes statt.
2.Systematische Auslegung
169Die systematische Auslegungsmethode bringt die zu interpretierende Norm in einen Zusammenhang mit dem gesamten Gesetz oder mit anderen Gesetzen.
Beispiel:Die zuständige Behörde möchte aufgrund von gewalttätigen Ausschreitungen eine Versammlung in der örtlichen Stadthalle auflösen. Was ist hierfür die richtige Rechtsgrundlage?
Lösung:§ 15 III VersG wäre vom Wortlaut her einschlägig. Die Systematikdes VersG spricht allerdings dagegen, da § 15 VersG im Abschnitt III „öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel“ steht. Richtige Rechtsgrundlage ist § 13 I Nr. 2 VersG, der aufgrund seiner Stellung in Abschnitt II für öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen gilt.
Die systematische Auslegungsmethode kann aber auch einen Begriff der Norm in einen Zusammenhang mit der gesamten Norm bringen.
Beispiel:G beantragt die Erteilung einer Gaststättenerlaubnis. Gegen die Ablehnung der Erlaubnis legt er Widerspruch ein. Er vertritt nun die Auffassung, dass sein Widerspruch gem. § 80 I S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung habe und er die Gaststätte schon eröffnen dürfe.
Lösung:Gem. § 80 I S. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Vom Wortlaut kann mit Widerspruch sowohl der Anfechtungs- als auch der Verpflichtungswiderspruch gemeint sein. Der Wortlaut ist also nicht eindeutig. Hier kann auf den Zusammenhang des Wortes „Widerspruch“ innerhalb der Norm abgestellt werden. Der Begriff „Widerspruch“ erscheint in § 80 I S. 1 VwGO in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Begriff „Anfechtungsklage“. Damit ist der Widerspruch als Vorverfahren vor Durchführung der Anfechtungsklage zu verstehen. Die Anfechtungsklage ist gem. § 42 I VwGO gerichtet auf die Aufhebungeines VA. G möchte hier aber nicht die Aufhebung, sondern den Erlasseines ihn begünstigenden VA. § 80 I S. 1 VwGO greift in diesen Fällen des Verpflichtungswiderspruchs nicht. Damit hat sein Verpflichtungswiderspruch keine aufschiebende Wirkung.
170Unterarten der systematischen Auslegung sind die verfassungskonformeund die unionskonforme Auslegung.
Die Normenhierarchie hat das Gebot verfassungskonformer Auslegung zur Folge. Ist der Wortlaut eines Rechtssatzes eindeutig, kommt eine verfassungskonforme Interpretation nicht in Betracht. Hier würde nämlich das Gesetz nicht mehr ausgelegt, sondern missachtet.
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