Irgendwann später kam dann auch noch Hansi dazu. Aber da redete Kerschkamp schon davon, dass der Kiesteich aussehen würde wie die Ostsee, wo er letzten Sommer mit seiner Kreidler zum Camping gewesen war. Und Ratte wollte sich mit dümmlichem Grinsen an Biggi ranmachen, die die Schwester von Lepcke war und schon seit Monaten ziemlich fest mit Hansi liiert. Deshalb stieß Hansi also Ratte rückwärts in den Teich, wo er auch glatt liegen geblieben wäre, das Gesicht halb unter Wasser, kichernd und Blasen blubbernd.
Zum Glück waren auch Sabine und Anette mit dabei. Anette war Appaz’ Freundin, mehr oder weniger jedenfalls. Ohne dass sie darüber geredet hätten, war für beide klar, dass es so lange gehen würde, wie es eben ging. Aber weil Anette so gut wie keine Brüste hatte und ziemlich kurze Haare, behauptete Ratte bei jeder Gelegenheit, mit Appaz würde irgendwas nicht ganz stimmen. Dass Anette unter ihren bunten Wickelröcken grundsätzlich keinen Slip trug, hatte Appaz Ratte nie erzählt, sonst hätte er wahrscheinlich anders darüber gedacht.
Jedenfalls holten die Mädchen Ratte aus dem Wasser. Kerschkamp und Appaz machten Feuer, und die Mädchen zogen Ratte nackt aus und wendeten ihn vor dem Feuer hin und her, bis seine Haut von allen Seiten krebsrot war und er plötzlich einen steifen Schwanz bekam. Woraufhin Sabine kichernd ihre Parkajacke über seinen Steifen hängte, als wäre Rattes Schwanz der Garderobenhaken in irgendeiner Kneipe.
Hansi hatte inzwischen die Kaffeemühle aus seinem Rucksack geholt, und die Tüte mit den Getreidekörnern. Er lernte Gärtner in einem Dorf irgendwo hinter Laatzen und schleppte immer diesen Rucksack mit sich herum, mit der Kaffeemühle von seiner Oma und einer hoffnungslos verrosteten Bratpfanne. Er hatte auch immer irgendwelche Getreidekörner dabei und natürlich sein selbst gezogenes Gras. Die Fladen, die er jetzt mit einem Becher Teichwasser zusammenmatschte, schmeckten genauso mies, wie Hansis Fladen immer schmeckten, und waren auch wieder mal halb verbrannt, aber sie machten schön breit. Noch breiter, als sie alle ohnehin schon waren. Und um nichts anderes ging es.
Eigentlich hatten sie zusammen mit Hansi gleich zu Beginn der Sommerferien nach Frankreich fahren wollen. Hansi hatte auch den Bus besorgt, einen rot-weißen VW-Bus, Baujahr 1964, mit 34 PS und geteilter Windschutzscheibe und Klapptüren an der Seite. Der Bus hatte dem Dorfschlachter gehört, und Hansi hatte ihm die Karre mit viel Hin und Her für 750 Mark abgeschwatzt, was sie zu fünft ganz gut bezahlen konnten. Aber kaum war er umgemeldet, setzte Hansi sich mit Biggi zu einem Ausflug an die Ostsee ab, ohne ihnen auch nur ein Wort zu sagen. Und sie hatten den Bus bis dahin noch nicht mal gesehen! Hatten Hansi nur das Geld gegeben und dann diesen bescheuerten Anruf von ihm gekriegt, aus Eckernförde, wo er mit Biggi mal eben für ein paar Tage hingefahren war - angeblich um zu sehen, ob der Bus auch wirklich fit war.
Woraufhin sie alle reichlich sauer gewesen waren. Kerschkamp hatte so lange herumgestänkert, bis sie Hansi erklärten, dass sie ohne ihn nach Frankreich fahren würden. Er sei so was wie ein Kameradenschwein, und sie könnten gut auf ihn verzichten. Hansi schien das völlig egal zu sein, oder zumindest tat er so, als wäre es ihm völlig egal, er drückte Appaz nur schulterzuckend und mit schiefem Grinsen die Schlüssel in die Hand.
Jetzt matschte er also wie üblich seine Fladen zusammen und benahm sich, als wäre nie etwas gewesen. Und natürlich verschwand er dann irgendwann wieder mit Biggi in dem Geräteschuppen gleich neben dem Steg, auf dem sie hockten. Aber das kannten sie schon. Sie hatten auch schon hundertmal Hansis Stöhnen gehört, das immer klang, als würde er gleich einen Herzkollaps kriegen, während Biggi ganz still blieb. Deshalb war Ratte fest davon überzeugt, dass Hansi etwas falsch machen musste.
Irgendwann wurde es so kalt, dass sie keine Lust mehr hatten. Buchmanns Hemd war angekokelt, weil er halb im Feuer gelegen hatte.
»Scheiße«, sagte er, »Scheißescheißescheiße.«
Fluchend kletterte er hinter Kerschkamp auf die Kreidler, und ohne Licht kurvten sie den Feldweg hoch. Lepcke schwankte quer über den Acker.
Anette fuhr den Bus, weil sie nie etwas trank und auch nicht viel kiffte. Weniger als die anderen jedenfalls. Sie kriegte den Rückwärtsgang nicht gleich rein, und Hansi grinste blöde. Als das Getriebe kreischte, hielt er sich demonstrativ die Ohren zu. Anette versuchte hochzuschalten, ohne zu kuppeln. Appaz sah an ihrem Gesicht, dass sie es mit voller Absicht tat. Er sagte nichts, sondern hielt nur den Kopf ans offene Fenster und zählte die Straßenlaternen. Kam aber immer nur bis fünf.
Sabine musste mit Ratte losgezogen sein. Jedenfalls rief Ratte am nächsten Mittag bei Appaz an und faselte irgendwas davon, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen habe und dass es zum Schluss nicht mehr witzig gewesen sei. Weil Sabine immer wieder angefangen habe, auch als er schon längst nicht mehr konnte. Zum Glück habe sich sein großer Bruder irgendwann beschwert, sonst würde Sabine jetzt immer noch auf Ratte nach Laramie reiten. Ratte klang wirklich fertig, als er das erzählte.
Rattes großer Bruder hieß Udo, und sie wohnten zusammen in einem Zimmer. Udo hatte sich für vier Jahre zum Bund verpflichtet, aber weil die Kaserne gleich um die Ecke war, durfte er zu Hause schlafen. Wenn er nicht gerade im Bau saß, was allerdings häufiger vorkam. Beim letzten Mal hatten sie ihn alle Mann besucht und erst ein paar Runden Mau-Mau mit ihm gespielt und dann Käpt’n Nuss, bis die Flasche billiger Whiskey, die Kerschkamp an der Wache vorbeigeschmuggelt hatte, unwiderruflich leer war. Was nicht allzu lange gedauert hatte.
Soweit Appaz sich erinnerte, war Udo da eingebuchtet, weil er ein paar Nächte zuvor schwer betrunken die Schaufensterscheibe von irgendeinem Fernsehladen eingeschlagen hatte und dann in aller Ruhe mit einem originalverpackten Fernseher unter jedem Arm die Fußgängerzone hochgetorkelt war. In Ausgehuniform!
Aber jedenfalls hielt Udo Appaz und die anderen jetzt für seine besten Freunde, seit sie ihn im Bau besucht hatten, und wollte sie unbedingt managen. Sie hatten nämlich eine Band, Pain in the Ass, mit Lepcke als Sologitarristen, Buchmann am Bass und dem Dicken am Schlagzeug.
Eigentlich hatte Kerschkamp Schlagzeug spielen sollen. Aber dann war der Dicke gekommen und hatte von einem Kumpel eine Gesangsanlage besorgt, womit die Sache klar war. Kerschkamp spielte jetzt noch bei zwei Songs Bongos, aber man hörte ihn kaum, weil sie nur ein Mikro hatten, und das brauchte Appaz zum Singen.
Sie waren nicht gut, aber verdammt laut.
Ratte spielte Rhythmusgitarre und konnte sich keinen Griff länger merken als für die nächsten zwei Stunden, von irgendwelchen Riffs ganz zu schweigen. Und der Dicke zerhackte regelmäßig ein paar Sticks pro Song. Trotzdem hatten sie immerhin schon drei Auftritte gehabt, den ersten auf einer Solidaritätsveranstaltung im Unabhängigen Jugendzentrum Kornstraße »gegen Entlassungen und Unterdrückungen«, und die beiden anderen bei irgendwelchen Dorffesten im »Gasthaus zur Eiche« in Ehlershausen, wo der Dicke einen Onkel hatte, der im Gemeinderat saß. Fast hätten sie auch noch auf einer Zigeunerhochzeit gespielt, hatten aber in letzter Minute wieder abgesagt, weil sie Schiss bekamen, dass Ratte sich an die Braut ranmachte und sie dann alle zusammen einen auf die Fresse kriegen würden.
Ihren Übungsraum hatten sie im Keller unter dem Lebensmittelgeschäft von Buchmanns Eltern. Und wenn Udo Ausgang hatte und nicht gerade wieder irgendwo einen Bruch machte, hing er mit einer seiner ohne Ausnahme wasserstoffblond gefärbten Freundinnen bei ihnen im Keller rum und träumte von deutlich besseren Zeiten, in denen er ihnen als ausgebuffter Rockmanager richtige Konzerte mit gigantischen Gagen besorgen würde. Aber immerhin hatte er ihnen zunächst schon mal den Typen besorgt, der für hundert Mark bar auf die Kralle ihren Bus hintenrum durch den TÜV brachte. Mit Stempel und Plakette und allem, was dazugehört, ganz seriös.
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