1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Nachdem er das Puzzle mit seiner Erfahrung und Intuition zusammengesetzt hatte, nahm Ben an, dass diese Frau nicht aus freien Stücken nackt ausgerückt war. Jemanden all seiner Kleidung zu berauben, war eine simple Methode, um ihn zu erniedrigen und zu kontrollieren; eine Geisel. Die kürzlich abgefeuerte Pistole bedeutete, dass ihre Abreise mit tödlicher Gewalt vonstattengegangen war. Ihrem Entführer war es wichtig gewesen, sie in der Nähe zu behalten, und er war gewillt, Gesetze auf Bundes-, Landes- und lokaler Ebene zu brechen und sämtliche Regeln des Anstands und der Würde gleich mit.
Der Lärm der Schüsse hatte ihre Flucht wahrscheinlich verraten. Sie war wohl erfolgreich bis zu einem gewissen Punkt gekommen, aber am Ende doch zu unvertraut mit ihrer Umgebung gewesen. Sie war bis zum Ufer gerannt und hatte in der Klemme gesteckt. Sie war auf einen Steg gestoßen und hatte das Boot gefunden. Ihre schiere Verzweiflung musste so groß gewesen sein, dass ihr die mangelnde Seetüchtigkeit in diesem derben Wetter vollkommen egal gewesen war. Die steifen, wechselhaften Brisen hatten die fehlenden Ruder ersetzt und das Boot vom Steg ins gefahrvolle Unbekannte befördert. Den Tod durch Ertrinken oder Unterkühlung zu riskieren, war immer noch besser als das Schicksal, dem sie entkommen war. Also war sie vermutlich vom westlichen Maryland-Ufer der Chesapeake gekommen. Wie lange war sie nackt durch den Regen und die Dunkelheit geirrt, bis ihr Fluchtweg von Wasser abgeschnitten worden war? Wie lange hatte sie auf dem Wasser getrieben, bis sie in das Wrack der American Mariner gespült wurde? Sein rostendes Heim, einst Refugium seiner vorübergehenden Abgeschiedenheit, erinnerte ihn nun an die Gefängnisschiffe in Dickens Große Erwartungen .
Die Frau erzählte ihm vielleicht mehr, wenn sie aufwachte. Vielleicht auch nicht. Abgesehen davon war klar, dass Ben keinen Gast hatte. Er beherbergte einen gefährlichen Flüchtling .
Sie war außerdem ein ungelöstes Problem.
Dunkelheit und Regen überschatteten Maynard Chalks schlechte Erinnerungen an seine letzte Mission, die abgesehen von seinem andauernden Herzschlag ein kompletter Misserfolg gewesen war. Darüber hinaus war Taherehs Gesellschaft damals wie heute sein einziger Trost. Wenigstens blutete sie diesmal nicht aus einem aufgeschlitzten Unterarm oder floh mit ihm vor der unmittelbar bevorstehenden Detonation einer schmutzigen Bombe, und all das in einem beschissenen, kleinen Boot, das in der wütenden Chesapeake zu kentern drohte. Damals war es dunkel und stürmisch gewesen, so wie heute. Das Fiasko hatte erst vor wenigen Monaten stattgefunden, gar nicht weit entfernt von den Wäldern, die sie gemeinsam mit den anderen Zwei-Mann-Teams durchkämmten.
Die Melancholie, die mit den Gedanken an die Vergangenheit einherging, mit den Verlusten, der Schande und seiner Verbannung von der privilegierten Schicht der Geheimdienstarbeit mit den Eimern voller Schmiergeld, das er abschöpfen konnte, hatte sich noch nicht als rasender Wutanfall niedergeschlagen,
aber der Tag war noch jung. Wie bei Herpes war der erste psychotische Vorfall meist der heftigste, konnte aber nach längerer Ruhephase wieder auflodern. Als statistischer Ausreißer hatte Chalk bewiesen, dass seine Zusammenbrüche gewalttätig genug waren, um einem Insassen im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence lebenslange Einzelhaft zu bescheren. Er hoffte, dass Tahereh einen Ausbruch rechtzeitig erkannte, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Durch die Nervenschäden war ihr zerfleischter Arm noch immer so gut wie nutzlos, und Chalk wäre nur ungern der Grund für einen Rückfall. Er hatte eine wirkliche Schwäche für diese Frau.
»Haben sich alle unsere Posten zurückgemeldet?«, murrte er.
Tahereh trat vorsichtig durch den Nadelwald und leuchtete mit ihrer Taschenlampe links und rechts von der Rasterlinie, an der sie entlanggingen. »Noch nichts von Sanders. Er ist jetzt acht Minuten überfällig.«
Chalk sprach in sein verschlüsseltes Funkgerät. »Sanders! Wo zum Geier steckst du?« Er bekam keine Antwort außer dem Summen der Elektronik. Chalk drückte wieder die Sprechtaste. »Sanders, ich kürze dir das Gehalt, wenn du dich nicht sofort meldest, du faules Stück Scheiße.« Natürlich war die Androhung einer Gehaltskürzung nur eine Umschreibung für heftige Prügel und möglicherweise Hinrichtung. Chalk berechnete bereits Sanders Wert als Organspender auf dem Schwarzmarkt.
»Er hatte Sektor Charlie, oder?«
Tahereh antwortete mit einem geistesabwesenden »Ja.«
»Wir hätten mehr Hunde besorgen sollen«, regte sich Chalk auf. »Bluthunde. Nicht diese verdammten Rottweiler. Ich hab schon Rennmäuse mit mehr Mumm gesehen. Und warum haben wir eigentlich nur zwei?«
Tahereh sagte: »Zu hohe Kosten. Wie bei den Ortungs-Chips.«
»Scheiß auf das Suchraster. Raster sind für Armleuchter. Marschieren wir doch mal in den Charlie-Sektor und sehen nach, was Sache ist.«
Tahereh stellte ihr Funkgerät auf die gemeinsame Frequenz des Suchtrupps, um die anderen Teams über ihren Planwechsel zu informieren. Sie stapften zwanzig Minuten durch die nebligen Wälder, bis sie Sektor Charlie erreichten, wo Sanders patrouillieren sollte. Zwei Gestalten zeichneten sich im dunklen, nassen Nebel ab.
Chalk hob seine Pistole und zielte damit auf die herannahenden Schatten, die ihre MagLite-Taschenlampen löschten. Tahereh nahm sie mit ihrer eigenen LED-Taschenlampe ins Visier.
Chalk brüllte: »Wasser ist nass!«
»Trink noch was!«, kam als Bestätigung von einer der Gestalten.
Chalk holsterte seine Pistole. »Irgendwas gefunden?«
Ein großer Soldat, Felix Harrower, an dessen Weste zwei Splittergranaten baumelten, hob eine Hand vor seine Augen und blinzelte in Taherehs Lichtstrahl. »Nein. Gar nichts. Er ist einfach weg.«
Harrowers Teamkamerad, eine kleine, drahtige Frau mit einem ungepflegten Vokuhila, der unter ihrer Schirmmütze hervorschaute, trat mit einer laminierten Geländekarte in der Hand nach vorn. Earline Byrd fuhr mit ihrem Finger entlang eines dunkelgrünen Abschnitts. »Wir sind da überall durch. Wollten gerade in die kleine Schlucht.«
»Wir übernehmen das«, sagte Chalk. »Ihr zwei dampft zurück und springt für uns im Echo-Sektor ein.« Er zeigte auf eine andere Stelle der Karte. »Wir sind bis dahin gekommen, immer in nördlicher Richtung.«
»Sanders? Nichts gefunden?«, fragte Harrower.
»Würde ich sonst hier stehen und mit dir quatschen? Zieh Leine. Im Laufschritt!«, bellte Chalk.
Harrower und Byrd knipsten ihre MagLites an und eilten in die Nacht, begleitet vom unprofessionellen Klappern ihrer Ausrüstung. Chalk fragte sich, wer sie auf diese hirnverbrannte Idee gebracht hatte, für diesen Einsatz Granaten anzuschaffen. Zugegebenermaßen marschierte er selbst von Zeit zu Zeit gern schwer bepackt. Vorsicht war besser als Nachsicht.
»Beschissene Amateure«, murmelte er. »Schauen wir uns die Schlucht an.«
Sie duckten und wanden sich in westlicher Richtung zwischen ein paar niedrigen Kiefern hindurch, während der Regen von den Ästen tropfte und in ihre Kragen lief. Chalk war außer sich vor Wut. Es war ihm egal, ob er Sanders oder die entlaufene Ware zuerst fand. Das dicke Ende sollte noch kommen.
Zehn Minuten später leuchtete Chalk mit seiner Taschenlampe über den Rand der Schlucht. Der Boden bestand aus einem plätschernden Strom, der einen halben bis einen Meter breit war, je nachdem, wie das Gelände es zuließ. Chalk hockte sich hin und rutschte den steilen Abhang hinunter, wobei Kiefernnadeln auf dem Gras und lehmiger Boden seinen Abstieg weiter beschleunigten. Als er am Boden ankam, stand ihm das Wasser bis übers Knie. Anfangs konnte Tahereh ihren Abstieg besser kontrollieren als Chalk, aber mit einer unnützen Hand, mit der sie sich nicht festhalten konnte, landete sie schließlich brusttief im Wasser sitzend.
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