»Na, da haben sich ja zwei gefunden.«
Joachim DePriest ließ die Zimmertemperatur gefrieren, als er Maynard Chalk mit einem verachtungsvollen, einäugigen Blick fixierte. Chalk betrachtete den deformierten Koloss, der über ihm auf seiner Chaiselongue auf einem Podium thronte. Er hasste die monströse Gestalt auch so schon, aber das Spektakel, ihm beim Essen zuzusehen, war widerwärtig. Die Spiegelungen mehrerer Nachrichten-Monitore auf dem kugelförmigen Leib ließen DePriest wie einen multimedialen Asteroiden aussehen.
DePriest nahm ein ganzes Brathühnchen vom Beistelltisch. In seiner gewaltigen Hand wirkte der Vogel wie ein kränklicher Spatz. Er saugte die Hälfte des Fleisches auf einmal vom Gerippe. Während er kaute, katapultierte sein lippenloser Mund große und kleine Knochen auf seinen Bauch. Fett verlieh seinem fleckigen Gesicht einen Glanz, der bis zu seinen Augenbrauen reichte.
Wallace, herausgeputzt in einem reizenden Dienstmädchen-Kostüm aus Vinyl, räumte die Knochen weg und wischte mit einer rosenwasserparfümierten Leinenserviette hinterher. Armand, der einen androgynen, roten Latex-Catsuit zur Schau trug, stockte das Buffet auf, wo fünf weitere Hühnchen, ein Lammkarree, ein Korb mit geöffneten Austern und ein Waschzuber voll Kartoffelbrei zwischen anderen Delikatessen warteten.
Wenn der gefräßige Anti-Buddha mit seiner schrillen Stimme wütete, dachte Chalk, dass seine Ohren vielleicht bluteten. Noch mehr zerkautes Fleisch purzelte aus dem glänzenden Schlund des Riesen.
»Die Kleine ist weg!«
»Ja. Vorläufig«, gab Chalk zu.
DePriest bebte vor Wut. »Das war dein einziger Job, Maynard! Das Einzige, was du bis zum heutigen Abend schaffen musstest! Und dann nur noch ein paar Abende danach, während der Bestand prozessiert würde und deine Verantwortung noch weiter reduziert worden wäre! Zwei aus deinem Team sind sogar tot?«
»Drei. Wir haben mit Schwund gerechnet, Mr. DePriest, beim Bestand. Und beim Personal auch. Diese Art von Operation …«
»Halt die Fresse! Fresse-Fresse-Fresse-FRESSE!« Wellen schlugen durch die verfetteten Wülste von DePriests Körper, als er schrie und mit Armen ruderte, die die Hinterläufe eines preisgekrönten Zuchtbullen hätten sein können. »Dieses Ereignis ist schon zwei Jahre im Entstehen! Die Mundpropaganda für geeignete Klienten, Untersuchungen, welche Darbietungen genau durchzuführen sind, die Anzahlungen, die ich eingesammelt habe, diese Einrichtung, die ich erstanden habe, die Umbauten, der Bestandsaufbau, die Server, Router und die Verschlüsselung – und das Personal, das ganze soziopathische Personal, das wir prüfen mussten! Du hast keine Ahnung, was es gekostet hat, das alles in Bewegung zu setzen, all das zu erschaffen, Maynard, alles bereitzumachen. Und jetzt, dank deines kleinen Fehltritts, streunt eine lebendige, plappernde, heidnische Schlampe da draußen rum und sucht nach Hilfe, nach der Polizei und nach einem Reporter, dem sie die Geschichte seines Lebens auf dem Silberteller präsentieren kann. Es wäre klug, alles abzusagen. Und all das deinetwegen !«
Vor seinem geistigen Auge sah Chalk, wie sich seine Gewinnbeteiligung an dieser Unternehmung in Luft auflöste. Stattdessen stapelten sich die Vorlaufkosten der letzten sechs Monate für seinen Sicherheitsdienst gefährlich hoch.
»Herrschaftszeiten, ich hab nie behauptet, ich wäre Temple Grandin.«
»Du bist Maynard Chalk! Wegen deiner Reputation und deines Lebenslaufs warst du die erste und die letzte Person, die ich zur Verwaltung meines handverlesenen Bestands in Betracht gezogen habe.«
Chalk hatte genug. »Jetzt komm mal runter, Dickerchen.« Armand und Wallace blickten zu ihrem Boss, wachsam für Zeichen, dass es Zeit war, Chalk zu zügeln, während der sich um Kopf und Kragen redete. »In vierzehn Stunden geht's los, wie geplant. Keine Abweichung vom Zeitplan. Ich finde den Ausreißer, das schwöre ich. Und in der Zwischenzeit wird ihr kein Schwein jemals glauben. Sie weiß nicht genug, um irgendwas auszuplappern. Die kennt kaum ihren eigenen Namen. Hat keine Freunde hier. Wir veranstalten unseren Zirkus und ich kriege meinen verdammten Anteil.«
DePriests Brust hob und senkte sich, als er versuchte, seine Wut zu bezwingen. Sein Auge funkelte kalt durch den schweineähnlichen Schlitz. Armand und Wallace standen wie Kampfhunde da, bereit, Chalk auf ein Wort ihres Herren auseinanderzureißen. Wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch zischte DePriest: »Ich treffe meine endgültige Entscheidung beim Frühstück. Du hast bis dahin Zeit, Maynard. Mach das Beste daraus.«
Ben und LuAnna spekulierten leise, während ihr Gast den letzten Bissen seines dritten Stücks Smith-Island-Schichttorte aß.
Eine sanfte, entschlossene Stimme unterbrach ihr Gespräch. »L'Wana, Ben, danke, aber ich muss jetzt gehen. Wo geht es zu meinem Boot?«
Die beiden Inselbewohner starrten, überrascht, ihren Gast zum ersten Mal sprechen zu hören.
»Wie ist dein Name?«, fragte Ben.
Die junge Frau wurde ungeduldig, sogar beharrlich, als sie sagte: »Cheptalam. Tally. Ich brauche Ruder. Hast du Ruder, Ben?« Ihre Worte waren deutlich, aber sie sprach mit schwerem Akzent.
»Tally, dein Boot ist weg«, erzählte Ben. »Ist weggetrieben. Tut mir leid.«
Die junge Frau machte ein erschrockenes Gesicht, als Blackshaw ihr die Neuigkeit mitteilte, fing sich allerdings schnell wieder. Sie zog Bens Bersa und zielte damit auf ihn. »Dann werde ich dein Schiff brauchen. Bitte.«
Blackshaw war nur ungern der Überbringer von noch mehr schlechten Nachrichten, aber es führte kein Weg daran vorbei. »Nun, ich bin nicht Captain Phillips. Und diese Waffe ist nicht geladen. Ich hab die Kugeln rausgenommen, als du geschlafen hast. Und wenn du mal durch ein Bullauge schaust, wirst du merken, dass dieses Schiff auf Grund liegt. Liegt schon länger auf 'ner Sandbank, als du am Leben bist. Vielleicht hast du den Riss im Rumpf übersehen.«
Tally richtete die Pistole auf den Stapel Decken auf dem Feldbett und betätigte den Abzug. Der Knall in der engen Metallkabine ließ ihre Ohren klingeln. Blackshaw und LuAnna zuckten zusammen und traten einen Schritt zurück, als Tally mit der Waffe wieder auf sie zeigte. Schießpulver verschmolz in der Luft mit dem Geruch von Gänsepastete.
»Du hast gesagt, sie wär leer«, beschwerte sich LuAnna.
Tally machte einen beschämten Eindruck, als sie sagte: »Ich wachte auf und fand die Kugeln, als Ben auf dem Deck herumlief. Dieses Schiff ist wirklich nur ein Wrack?«
»Ja, es stimmt«, sagte LuAnna. »Kannst du bitte die Pistole runternehmen? Vielleicht können wir dir helfen.« LuAnna hatte bei der Natur- und Wasserschutzpolizei zwar eine Stunde Geiselbefreiungstraining gehabt, doch sie hatte damals nur halbherzig zugehört und verließ sich nun auf ihr Einfühlungsvermögen.
Tally zeigte auf Blackshaw. »Der da wollte mich töten.«
»Und er hätte es tun können, schon hundert Mal«, sagte LuAnna mit einer Spur Stolz in ihrer Stimme. »Du bist immer noch am Leben, weil es das ist, was er will.«
»Du hast mir 'ne Knarre ins Gesicht gerammt«, argumentierte Ben. »Dich hier zu haben, kam mir wie 'ne schlechte Idee vor. Tut's immer noch.«
»Wo willst du denn hin? Die Bucht ist ziemlich stürmisch«, sagte LuAnna.
»Na und? Lass sie gehen«, entgegnete Ben. »Sie kann mein Schlauchboot haben. Dein Skiff könnte zurückverfolgt werden, sobald sie es irgendwo stehenlässt oder kentert und ertrinkt. Die Chesapeake ist auf unserer Seite, Schatz.«
LuAnna warf ihrem Gatten einen missbilligenden Blick zu.
»Bitte, es gibt etwas, das ich tun muss. Ich muss zurück. Es bleibt keine Zeit«, flehte Tally nun.
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