1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Sie stieß einen Fluch in Farsi aus. Mit Chalks Hilfe kam sie wieder auf die Beine. Sie war nass bis auf die Haut, durchfroren bis auf die Knochen und wütend bis in die Tiefen ihrer Seele, war aber schlau genug, sich nicht zu beschweren. »Flussaufwärts oder abwärts?«
Chalk grübelte für einen Moment. Der Bachlauf war schlammig und turbulent und bot keine Hinweise darauf, in welche Richtung die Abtrünnige geflohen war. »Flussabwärts, sie wird sich die Strömung zunutze gemacht haben. Glaubst du, Sanders steckt mit drin?«
Tahereh spürte, wie das rauschende Wasser den Schlamm unter ihren Stiefeln fortspülte. »Sie wurde gemäß der Tradition ihres Volkes beschnitten und vernäht. Was hätte sie ihm zu bieten?«
»Gottverdammte Barbaren. Aber nach meiner Rechnung bleiben ihr noch zwei Öffnungen und zwei gesunde Hände dazu.«
»Deine Leute werden gut genug bezahlt«, merkte Tahereh an. »Sanders müsste sich nicht mit mangelhafter Ware abgeben, es sei denn, er wollte sie bei Laune halten, bis er sie getötet hat.«
»Er würde es nicht wagen, die Ware anzurühren«, schäumte Chalk. »Sie war Güteklasse A, vor allem mit ihren Modifikationen. Die Perversen lieben so was Schräges. Er würde sie keinesfalls anfassen, zumindest falls er vorhatte, sie zurückbringen.«
»Dann glaube ich, dass sie flussaufwärts gegangen ist«, sagte Tahereh. »Sie schien mir nicht dumm zu sein.«
Chalk drückte wieder die Sprechtaste seines Funkgeräts. »Sanders, du gottverdammter Tagelöhner! Lass mir ja deinen Fleischspieß aus meinem Eigentum oder ich lass dich deine eigenen Klöten fressen! Sanders!« Seine Warnung erntete nur Stille aus dem Funkgerät.
Für die nächsten fünfzehn Minuten wateten sie im Regen gegen den rauschenden Strom und leuchteten mit ihren Lampen die Böschung der Schlucht ab. Chalk wühlte sich durch die Mitte des Grabens, während er Tahereh half, sich entlang der flacheren Ränder des vom Regen angeschwollenen Bachs auf den Beinen zu halten. Die Wände der sonst trockenen, kleinen Schlucht waren häufig zu steil, um auf dem Trockenen bleiben zu können.
Es war Taherehs Lichtstrahl, der das Hindernis, das vor ihnen lag, zuerst entdeckte. Es schien ein toter Baum zu sein, der heruntergerissen worden war, als die Schlammmasse unter ihm sich vom Hang gelöst hatte.
Sie stapften näher.
»Sanders!«, brüllte Chalk.
Die Beine des Wachmanns trieben leblos im Wasser und hatten bereits ein paar kleine Zweige zusammen mit Laub und Kiefernnadeln eingefangen. Eine halbe Stunde später und er wäre komplett unter der Masse von Treibgut verschwunden, die flussabwärts gespült wurde.
»Bitte sag mir, dass er einen verdammten Herzinfarkt hatte«, rief Chalk, als sich Tahereh einen Weg zu dem gefallenen Mann auf der rechten Uferseite bahnte.
Tahereh rief Chalk, der hinterherhinkte, über ihre Schulter zu: »Drei in die Brust. Seine AK ist hier. Kann seine Pistole nicht sehen. Sein Messer ist auch noch hier.« Tahereh ignorierte die offenen, starrenden, regennassen Augen der Leiche. Sie hatte schon immer eine Schwäche für ein schönes, scharfes Stück Stahl gehabt, also beugte sie sich herab, um Sanders begehrtes Gerber-Kampfmesser aufzuheben.
Chalk war immer noch ein Stück von Tahereh und dem Leichnam entfernt, als er rief: »Was ist mit seinen Granaten?«
Wie als Antwort auf seine Frage hörte Chalk ein blechernes Scheppern – wie ein Teelöffel in der Besteckschublade. Plötzlich wühlte Tahereh blind im schmutzigen Wasser um die Leiche herum, als suchte sie nach einem verlorenen Diamantohrring. Ihr panischer Schrei kam zu spät. »Granate!«
Das Wasser neben Tahereh schoss in einer Fontäne empor, begleitet von einem dumpfen Knall. Tahereh flog rückwärts in die Böschung und rutschte im Schlamm wieder zurück ins Wasser. Chalk spürte, dass etwas an seinem Kopf vorbeiflog. Noch ein dumpfes Geräusch. Er drehte sich um und sah Sanders Messer, das sich mit der Spitze voran in einen Baumstumpf ein paar Meter hinter ihm gebohrt hatte. Ein Schnürsenkel baumelte vom Knauf, der Ring eines Sicherungsstifts an dessen Ende. Eine simple Sprengfalle.
Chalk watete den Strom hinauf und kniete sich an Taherehs Seite. Beide Arme fehlten ab den Ellbogen. Obwohl sie auch nördlich der Knie schlimm zerkratzt und zerschrammt war, hatte die volle Wucht der Druckwelle sie zwischen Bauch und Gesicht erwischt. Ihr zerfledderter, blutiger Kampfanzug war zusammen mit ihrer Haut weggerissen worden und enthüllte zerfetzte Muskelfasern und durchlöcherte Organe. Ihre dicke, schwarze Mähne an ihrem Skalp lag nach hinten weggeklappt wie eine Perücke, die im Wind verrutscht war. Taherehs Mandelaugen waren nun kleine Auflaufförmchen gefüllt mit Himbeermarmelade.
Er versuchte sie zu trösten. »Schatz, diesmal hast du wirklich in die Scheiße gelangt.«
Zu Chalks Entsetzen entwich der klaffenden Wunde, die Taherehs Mund gewesen war, ein blubberndes, keuchendes Pfeifen. Dann folgte ein Satz, aber weil ihre Lippen, Zähne und Zunge nur noch Brei waren, konnte er sie nicht verstehen. Erstaunt darüber, dass sie noch am Leben war, lehnte er sich über sie, um zu hören, was sie zu sagen hatte.
Ihre Armstummel näherten sich Chalks Gesicht und umklammerten seinen Hals in einer steifen, klebrigen Umarmung. Angetrieben von reinem Ekel drückte er die Liebe seines Lebens mit beiden Händen in den Schlamm. Tahereh bewegte sich nicht noch einmal. Es gab kein Geräusch außer dem Regen und dem Wasser, das durch die Schlucht rauschte. Chalk sagte sich, dass er Tahereh nach ihren letzten Worten fragen konnte, wenn sie sich das nächste Mal sahen.
Eine gute Stunde lang schritt Ben Blackshaw auf dem Vorderdeck auf und ab, wie der wahnsinnige Schiffskapitän einer alten Seemannsgeschichte aus dem 19. Jahrhundert. Der kalte Regen half ihm, einen klaren Kopf zu bekommen. Beim ersten Zeichen des Sonnenaufgangs, der die Nachtwache im Osthimmel ablöste, ging er leise wieder unter Deck. Sein Gast schlief noch immer.
Blackshaw musste seine Abgeschiedenheit schützen. Er musste seine Anwesenheit auf diesem Wrack vor allen außer seinen wenigen vertrauenswürdigen Freunden geheimhalten. Er musste die Lüge seines Todes aufrechterhalten, damit er nicht zur Beute in einer gnadenlosen Jagd geriet. Obendrein war da noch seine heimliche Arbeit, einen gestohlenen Goldvorrat in Kunstwerke umzuarbeiten und diese Stück für Stück auf einen erlesenen Markt zu schmuggeln, der sich nicht um seinen Namen scherte, sondern stattdessen die mysteriöse Herkunft solch seltener Werke in einem derart kostbaren Medium würdigte.
Jeder in seinem Zuhause auf Smith Island, weniger als dreihundert Seelen, hatte Interesse daran, dass seine einsamen Bemühungen ohne Unterbrechung voranschritten. Der Vorrat belief sich auf Tonnen von Gold; so viel zu tun. Er konnte nicht zu einem einfacheren Leben auf den Gewässern der Chesapeake Bay heimkehren, wollte sich nicht diesen Frieden erlauben, bis jede vermaledeite Unze zu etwas Schönem gemacht worden war – und dann zu Geld.
Er wiegte die .45er der Frau noch einmal in der Hand und betrachtete seine Möglichkeiten. Es gab bereits zwei Leichen von unglückseligen Söldnern in den gefluteten Eingeweiden der American Mariner , die nach einem brutalen Übergriff im letzten Winter zu Suppenknochen verrotteten. Würde noch eine Leiche wirklich einen Unterschied machen? Blackshaw zögerte, als ihm einfiel, wie seine bezwungenen Feinde dazu neigten, ihm spektrale Gesellschaft zu leisten, wenn er gerade am Einschlafen war. Er wusste, dass diese junge Frau lange nach ihrem letzten Atemzug wie eine Rachegöttin verweilen würde.
»Ben?«
Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, während er sich dem Geräusch entgegendrehte, den Hahn der Pistole spannte und auf den neuen Eindringling zielte.
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