»Zurück wohin? «, fragte LuAnna. »Süße, du hast die Knarre, also kannst du ein Boot haben. Jippie. Und danke, dass du bitte und all das gesagt hast, aber selbst wenn du einen verflixten Flugzeugträger hättest, wo zum Geier willst du hin?«
Es war, als ob sie die Frage zum zweiten Mal hören musste, bis sie Tallys emotionale Aufgewühltheit durchdringen konnte. Das Mädchen dachte einen Moment nach. Dachte daran, wie schwierig es gewesen war, bis zur American Mariner zu kommen. Sie setzte sich auf das Feldbett, entmutigt und aufs Neue erschöpft.
»Kannst du bitte die Waffe runternehmen?«, fragte LuAnna.
Tally richtete die Waffe auf die Decken und drückte wieder ab. Blackshaw und LuAnna zuckten, als der Hahn mit einem lauten Klicken auf ein leeres Patronenlager schlug.
Die junge Frau wirkte kleinlaut, als sie die Waffe wegwarf und zu Ben sagte: »Du kamst zurück, bevor ich mehr Kugeln laden konnte.«
Ben und LuAnna atmeten beide erleichtert aus. Tally begann zu weinen. Sie schob die Tränen mit geballten Fäusten umher. »Meine Schwester. Ich muss ihretwegen zurückgehen. Ich habe es versprochen. Sie wartet auf mich. Sie werden sie töten.«
Tallys klägliches Winseln löste bei LuAnna verzweifeltes Mitleid aus. »Wer wird sie töten? Warum? Wann?«
»Heute Nacht«, sagte Tally. »Es sind Monster. Sie werden sie wie ein Tier abschlachten, aber was sie ihr vorher antun werden – viele Stunden lang – Chamaiyo ist zwölf Jahre alt. Erst zwölf! Wir müssen die anderen vorher töten, L'Wana. Ben, wir müssen sie vernichten, jeden Einzelnen von ihnen.«
So herzzerreißend die Geschichte auch war, Blackshaws Gedanken wandten sich in eine andere dunkle Richtung. Nachdem sie eben die einzige Kugel in seiner Pistole abgefeuert hatte, hätte der Schlitten in der geöffneten Position einrasten sollen. Doch hatte der Schlitten nach dem Schuss das Patronenlager wieder verschlossen, was Ben und LuAnna davon überzeugte, dass wenigstens noch eine Kugel in der Kammer war. Zwar konnte das Gleiche geschehen, wenn der Zubringer im Magazin beschädigt oder das Magazin ein billiges Fabrikat war, aber Ben wusste, dass beides nicht der Fall sein konnte. Das Magazin war neu. Er tauschte es regelmäßig aus.
Bens Ansicht nach blieb da nur eine weitere, verstörende Möglichkeit. Der Eindringling hatte beim Abdrücken den Schlittenfanghebel mit dem linken Daumen betätigt und damit das Festhalten in der geöffneten Position außer Kraft gesetzt, um die Täuschung komplett zu machen. Tally hatte entweder großes Glück gehabt, oder aber ihre Waffenkenntnisse gingen weit über Verprügeln und Abdrücken hinaus. Blackshaw glaubte nicht an Glück. Ein ungutes Gefühl in seiner Magengrube verriet ihm, dass in Tally viel mehr steckte, als sie vermuten ließ.
Die American Mariner war völlig durchsiebt von den Schießübungen des Pax River Marinestützpunkts. Als Ben sie über das Wasser und durch den dichter werdenden Nebel betrachtete, schwelgte sein Künstlerauge im Farbenspiel, das sich ihm bot, wie die weiße Rumpffarbe in das rostige Orange-Braun von getrocknetem Blut verlief. Die grobschlächtige Zerstörung des alten Zielschiffes, die mit dessen Versenkung begonnen hatte und mit Bomben und Kugeln fortgeführt worden war, nahm nun in nachfolgenden Jahrzehnten einen natürlicheren Verlauf.
Blackshaw drehte den Außenbordmotor seines Schlauchboots voll auf und inhalierte genüsslich die steife Brise und den nebeligen Regen. Es fehlte an Bord des Frachters nicht an frischer Luft, solange einem der Geruch von Heizöl, Rost und längst vergangenen Seereisen, deren Besatzung schon lange begraben war, nichts ausmachte. Für Ben war da etwas unheimlich Lebendiges in den entfesselten Winden der Chesapeake, die sein unrasiertes Gesicht einfroren und Tränen in seine Augen trieben.
LuAnna und Tally würden auf dem Wrack allein klarkommen – oder zumindest redete Ben sich das ein. Ein kurzer Blick von seiner Frau, bevor er ging, verriet ihm, dass sie ihre eigenen Vermutungen hatte, was ihren Gast anging. Tally wurde einstimmig Asyl gewährt, sobald sie Bens Bersa abgegeben hatte. LuAnna behielt sowohl diese Pistole als auch die .45er in ihrem Gewahrsam. Die ehemalige Polizistin trug auch eine markige kleine .25er Beretta Jetfire an ihrem Knöchel, aber Tally musste davon nichts wissen.
Das Schlauchboot war schnell, aber brutal im Wellengang. Blackshaw hätte das Boot gern mit einer zweiten Person am Bug oder wenigstens Mitschiffs getrimmt, um sein eigenes Gewicht und das des Motors am Heck auszugleichen. Er hatte den tragbaren Benzintank so weit bugwärts gestellt, wie es die Treibstoffleitung zuließ. Der Tank war fast voll und sein Gewicht und die Platzierung halfen dabei, den Bug um ein paar Grad zu senken. Doch selbst so musste Ben einiges aushalten. Auf der anderen Seite kam es ihm vor, als ob die raue Fahrt eine Starre löste, die in den letzten Wochen auf dem Wrack langsam in seine Muskeln, Knochen und in seinen Kopf gekrochen war. Seltene Besuche von LuAnna, die Vorräte brachte, hatten geholfen, den durch Einsamkeit hervorgerufenen Wahnsinn abzuwenden, aber die Luft der Bucht und die weite See waren Bens Lebenselixier. Er ließ nicht vom Gas ab, bis er seinem Ziel nahe war.
Er raste durch die dunkleren Vorhänge stürmischer Böen an Stellen vorbei, die mit solchen Namen wie Northwest Middle Grounds und The Old Hannibal belegt waren. Hier, zwischen den Seezeichen 70 und 72, drückten die Gezeiten Streifenbarsche, Blaufische und Spanische Makrelen an die Oberfläche, wo Möwen sich tummelten und zeigten, wo die Angel auszuwerfen war.
Er bretterte weiter südlich zwischen Chumming und Mud Leads hindurch, was vor Ort als Shell Hill bekannt war. Immer noch außer Sicht des Ufers passierte er das Martin-Wildtierschutzgebiet, das nahe Smith Island nördlich des Big Thorofare lag und gleich gegenüber des Dörfchens Ewell. Dieser Zufluchtsort hatte den Smith-Island-Bewohnern seit Jahrhunderten als Jagdgebiet und Weideland gedient, bis Glenn Martin, der Luftfahrtpionier, im Jahr 1954 die ersten 1076 Hektar dem US Fish and Wildlife Service übergeben hatte. Über Nacht war aus den Smith Islandern, die dort Führungen machten oder den eigenen Tisch füllten, Wilderer geworden.
Er konnte sein Haus auf Smith Island durch den grauen Regen hindurch nicht sehen, aber er spürte den Sirenenruf von Heim und Herd, der sein Herz in Sehnsucht tauchte. Eines Tages würde er als freier Mann über seine Türschwelle treten, lebendig und unter seinem eigenen Namen. Aber nicht heute. Nicht dieses Mal. Vorerst war er als Toter in allen Datenbanken aufgeführt, die solche Dinge verzeichneten, und in den schattigen Untiefen seiner Seele musste er diesem Urteil beipflichten. Das würde sich ändern. Es musste, oder er würde durch die Trauer über den Verlust seines alten Lebens den Verstand verlieren.
Mit der herannahenden Flut fuhr er zwischen Cheeseman und Shanks Island hindurch, die kaum mehr als Sandbänke waren. Dann kreuzte er nach Norden, um South Point und Peach Orchard Point herum. Nach kurzer Zeit steuerte er nordwestlich in die kleine Meerenge, wo sein Freund Knocker Ellis lebte.
Ellis' Saltbox lag in einer höheren Lage, die durch Zeit, steigendes Wasser und sinkendes Marschland von den anderen hundert Vollzeit-Seelen abgeschnitten worden war, die die Gesamtheit der hiesigen Zivilisation ausmachten. Ellis konnte zu Fuß über eine lange, umständliche Reihe von Stegen und groben Bohlenwegen zum Rhodes Point laufen, aber er zog es vor, das Deadrise Miss Dotsy zu nehmen, auf das er bis zu glücklicheren Zeiten für Ben aufpasste. Wenn das Passieren seiner eigenen Saltbox schon einen nostalgischen Gemütszustand herbeiführte, dann zog der Anblick von Miss Dotsy , wie sie mit ihren perfekt gespannten Vor- und Achterleinen im Wasser lag, Bens Lebensgeister nur noch mehr runter. Das Boot gehörte seinem früheren Selbst; wirklich einem ganz anderen Mann aus einer längst vergangenen Zeit.
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