In Untersuchungen, meist an Rhesusäffchen vorgenommen, lassen sich weitere Belege für das Wechselspiel von Bindung/Trennung und Physiologie finden, z. B. zu Herzrhythmusstörungen, zum Tag/Nacht-Wach-Schlafmusters, zur Ausschüttung des Hormons Noradrenalin (wichtig für die Regulation der Feinabstimmung – z.B. aufhören zu essen, wenn man satt ist, aufh ören zu trinken, wenn der Durst gelöscht ist) und zum Wärmemetabolismus (vgl. Grossmann K., in: Hauser 2000). In der Frühgeborenenforschung (Als 1986) wird das Bild von Eisenbahnwaggons für die Koppelung von elterlichen und kindlichen physiologischen Regulationen genannt. Ein passenderes Bild bietet das Kangarooin. Hierbei wird das Baby mittels eines Stretchbeutels (Kangaroo-Beutel) an die Brust der Mutter / des Vaters gelegt (in aufrechter Position, möglichst nackt, nur mit einer Windel bekleidet, um viel Hautkontakt zu bieten, je nach Bedarf des Kindes zugedeckt eine bis mehrere Stunden am Tag). Mit beiden Bildern ist die wichtige Koppelung zwischen Baby und Bezugsperson gemeint: so wird für das Baby durch leichtes Schubsen oder Ruckeln der Bezugsperson, durch deren Laute und Geruch ein nachweisbar besserer, erholsamerer Schlaf ermöglicht als der Tiefschlaf. Auch die Körpertemperatur (Frühgeborene haben u. a. Schwierigkeiten beim Wärmeerhalt – Gefahr der Hypothermie) kann stabiler gehalten werden als im Inkubator.
Untersuchungen des südafrikanischen Kinderarztes Niles Bergman in den 90er Jahren und der Neonatologen Neos Edgar Rey & Hector Martinez (Bogota) auf Video festgehalten bestätigen eindrucksvoll, dass sich durch Kangarooing (also durch eine Behandlung ohne Apparatemedizin, wie Inkubator und Atemhilfen) zu früh geborene Babys viel schneller erholen (z. B. bezüglich Herzfrequenz, Apnoen, Sauerstoffsättigung, erwähnter Körpertemperatur, Schlaf, Koliken) und die Sterblichkeit von siebzig auf dreißig Prozent gesenkt werden konnte! (vgl. INK – International network for Kangarooing Mother Care, Kolumbien).
Weitere Erkenntnisse aus der Gehirnforschung der letzten zehn Jahre zeigen, dass frühe Störungen in der Mutter-Säuglings-Beziehung gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung der rechten Gehirnhälfte haben. In den ersten zwei Lebensjahren findet eine rasante Gehirnentwicklung statt, wobei sich im ersten Lebensjahr vor allem die rechte Gehirnhälft e entwickelt. Das Gehirn wiegt anfangs bei der Geburt um die 400g, am Ende des 2. Lebensjahres ca. 1200g. Die rechte Gehirnhälfte ist verbunden mit dem limbischen System, das auch als Sitz der emotionalen Intelligenz (sozio-emotionale Informationsverarbeitung) bezeichnet wird. Durch die schnelle Entwicklung kommt es beim unreifen kindlichen Gehirn zu einer großen Verletzlichkeit gegenüber frühen ungünstigen (sozialen) Erfahrungen. Dies prägt sich während der Reifung des Gehirns in den ersten zwei Lebensjahren mit weitreichender Wirkung in die neurobiologischen Strukturen ein und verursacht Affekt- und Verhaltensänderungen (vgl. Schore 2001).
Spezielle Indikationen und Störungsbilder im Säuglings- und Kleinkindalter
Mit jedem Menschen
Ist etwas Neues in die Welt gesetzt,
was es noch nicht gegeben hat,
etwas Erstes und Einziges.
(Martin Buber, 1934)
Welchen Störungen kann nun ein Mutter-Kind-Feld ausgesetzt sein, die die Entfaltung der intuitiven elterlichen Kompetenz und die Entwicklung einer sicheren Bindung behindern bzw. gefährden (Die Nennungen sind hierbei weder als vollständig noch als notwendigerweise traumatisch anzusehen – sie beziehen sich auf meine Erfahrungen im Klinik- und freien Praxisbereich)?
• Vorgeburtliche Traumata, z.B. eine ungewollte Schwangerschaft, Wunsch nach Abtreibung, Familienkrisen (Trennungen, Verluste, Todesfälle), psychosoziale Belastungen (finanzielle Not, Jobverlust), Krankheiten, Vergiftungen oder Drogenabhängigkeit der Mutter, Körperlicher oder sexueller Missbrauch, vorgeburtlicher Tod eines Zwillings, vorzeitige Wehentätigkeit (verbunden mit großer Angst vor dem Verlust des Babys)
• Medizinische Komplikationen in der Schwangerschaft: Pränatale Stressbelastungen liegen nicht nur dort vor, wo Verdachtsdiagnosen in der Folge durch weitere Untersuchungen bestätigt werden, sondern können genauso durch einen nicht-bestätigten Verdacht, eine unsensible Wortwahl oder Weitergabe medizinischer Halbinformationen durch Pflegepersonal oder ÄrztInnen selbst entstehen.
• eine schwierige Geburt wie ein Kaiserschnitt, sehr lange Wehen, eine Saugglocken- oder Zangengeburt; Frühgeburt (Todesbedrohung, abrupte Trennung, Einschränkung der elterlichen Kompetenz durch medizinisch notwendige Intensiv-Betreuung)
• eine frühe Trennung von Mutter und Kind, z.B. durch den notwendigen Aufenthalt des Kindes auf einer Intensivstation oder einen weiteren stationären Aufenthalt der Mutter
• das seit der Kindheit vermittelte Mutterbild durch ihr familiäres Umfeld, Erziehung, kulturelle und religiöse Einflüsse (introjizierte Grunderfahrungen 2)
• besondere Erwartungen der Mutter: Es kommt zu einer Diskrepanz zwischen Wunschvorstellung und Realität, z.B. Spontangeburt versus Kaiserschnitt, ruhiges Baby versus untröstliches Baby, Harmonie zu dritt versus Paarkrise und Überforderung, Perfektionismus versus Unvollkommenheit
• wenig, keine oder falsche Unterstützung durch Partner und Familie, wenn z.B. anstelle von Unterstützung Konkurrenz tritt oder wenn unpassende Tipps (von Partnern, Müttern, Schwiegermüttern und Freundinnen) zu noch mehr Verzweiflung und Verunsicherung führen
• Rollenfindung vom Paar zur Elternschaft; von selbstbestimmter Frau zu verantwortlicher, isolierter Mutter zu Hause; Triangulierung zwischen Vater, Mutter, Kind
• Unsicherheiten bezüglich der eigenen Bedürfnisse versus die des Babys; Verabschieden von der eigenen Kindheit
• frühere, unverarbeitete Verlusterlebnisse, Traumata; frühere Fehl-, Tod- und Frühgeburten
Als Klassifikation von postpartalen Anpassungsstörungen sind nach ICD-10 folgende Kodierungen möglich:
– F53 psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett (Baby-Blues)
– F53.0 leichte psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, postpartale Depression
– F53.1 schwere psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, Puerperalpsychose
Weiterhin kann das Mutter-Kind-Feld gestört sein durch:
• (Psycho-) somatische Beschwerden des Kindes (wie Koliken, Durchfall, Hautekzeme u.ä. m.)
• und durch Verhaltensauffälligkeiten beim Säugling/Kleinkind, wie exzessives Schreien, Irritierbarkeit/angeborene niedrigere Reizschwelle,Schlafschwierigkeiten, Essprobleme, Ängstlichkeit, Hyperaktivität oder Zurückgezogenheit.
Die meisten (nach einer pädiatrischen entwicklungsneurologischen Abklärung) mir zugewiesenen Familien stehen vordergründig unter einem Leidensdruck durch letztgenannte Verhaltensauffälligkeiten. Ist mit diesen Auff älligkeiten die außergewöhnliche Schwierigkeit eines Säuglings/Kleinkindes gemeint, sein Verhalten in einem oder auch mehreren Interaktions- und regulativen Kontexten – also in Bereichen der Selbstberuhigung, des Schreiens, Schlafens, Fütterns, und der Aufmerksamkeit – angemessen zu regulieren, so bezeichnet man diese als Regulationsstörungen. Die Klassifikation nach ICD-10 bietet derzeit folgende mögliche Kodierungsschlüssel:
– F98.2 Fütterstörung im frühen Kindesalter
– F93.8 Sonstige emotionale Störungen des Kindesalters
– F43.2 Anpassungsstörung
– F51.9 Nicht näher bezeichnete nichtorganische Schlafstörung
Warum haben manche Kinder viel stärkere Bedürfnisse als andere? Das Temperament eines Säuglings, sein Verhalten, sein Tun aus innerem Antrieb ist von Geburt an da, veränderlich und (positiv oder negativ) beeinflussbar (vgl. Sroufe 1982, in: Sears 1998). Wenn wir uns vorstellen, wie ideal das gebärmütterliche Umfeld pränatal auf das Kind eingeht (Bedürfnisse werden andauernd und automatisch befriedigt), wird leichter verständlich, dass es für einige Neugeborene postpartal schwierig sein kann, aus eigenem Vermögen in einem neuen Umfeld im Gleichgewicht zu bleiben bzw. wieder dorthin zu gelangen. Die Kontaktgrenzen müssen neu organisiert werden. Das Neugeborene hat den Wunsch, sich wohl zu fühlen, aber ist noch nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft auf die neue Umwelt einzustellen.
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